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Boy
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Boy

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About this ebook

Ich kann nicht mehr. Den Zettel mit seinen letzten Worten deponiert der schöne, stille Boy in der Manteltasche seiner Theaterlehrerin. Als sie ihn findet, ist es längst zu spät.

Ein Paar nimmt in einem afrikanischen Kinderheim ihren Adoptivsohn in Empfang. Sie sind unsicher, aber voller Hoffnung. Sie wollen dieses Kind retten, ihm die Welt eröffnen, alle Zoos und Vergnügungsparks besuchen. Aber ihr Boy ist nervös, ängstlich, durch Kleinigkeiten zu verstören. Erst nuschelt er, dann stottert er, dann hört er ganz auf zu sprechen. In der Schule ist er ein Außenseiter, dessen Mitschüler zu seiner Geburtstagsparty nicht erscheinen. Seine Eltern bemühen sich, aber seine Höflichkeit ihnen und ihren Angeboten gegenüber verwandelt sich in Unnahbarkeit. Spätestens als er aufhört, Kind zu sein, haben sie ihn verloren.
Berührend, ergreifend und ohne Voyeurismus dringt die Autorin tief in die Seelen ihrer Figuren ein, sie folgt dem Weg der Trauer, den die Eltern und die Lehrerin als seine einzige Vertrauensperson gehen, sie erspürt die Wucht der Schuld und das Bedürfnis nach Rache für eine Tat, die nicht gerächt werden kann.
LanguageNederlands
Release dateApr 22, 2016
ISBN9783803142009
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    Book preview

    Boy - Wytske Versteeg

    Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt

    Die niederländische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Boy bei Uitgeverij Prometheus in Amsterdam.

    Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

    E-Book

    -Ausgabe 2016

    Deutsche Erstausgabe

    © 2013 Wytske Versteeg

    © 2016 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 /​ 41, 10719 Berlin

    Covergestaltung: Julie August

    Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 978 3 8031 4200 9

    Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN: 978 3 8031 2755 6

    www.wagenbach.de

    Niederländische Literatur bei Wagenbach

    Cees Nooteboom   TURBULENZEN

    Reisegeschichten 

    Mit 17 Jahren unternimmt Cees Nooteboom seine erste Reise von Hilversum nach Belgien. Unzählige weitere Reisen folgen, ob nach Ost-Berlin zum Parteitag der Kommunisten oder in seinen vielgeliebten Süden.

    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

    WAT 756. 112 Seiten

    Marcel Möring   MODELLFLIEGEN 

    Novelle 

    Mitten in der Arbeit an einem umfangreichen Roman fällt Marcel Möring eines Morgens ein Satz ein, der ihn nicht mehr loslässt. So entsteht diese Novelle über einen Jungen, der seine Eltern, Modellflugzeuge und das Kochen liebt.

    Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen

    WAT 757. 128 Seiten

    Anna Enquist   DIE EISTRÄGER 

    Roman 

    Die unterkühlte Ehe von Loes und Nico ist am Ende. Ihre Tochter hat den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Verwirrt, haltlos, schweigend schlittern die beiden Partner in eine Tragödie hinein, die für einen von beiden aber auch so etwas wie ein Neuanfang sein könnte.

    Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers

    WAT 758. 144 Seiten

    Andreas Burnier   KNABENZEIT 

    Roman 

    Der autobiographische Roman beginnt an einem Frühlingstag zu Kriegsende. Die

    14-jährige

    Simone möchte die neue Freiheit genießen und nichts mehr verbergen, auch nicht, dass sie viel lieber ein Junge wäre.

    Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert

    WAT 759. 112 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

    Harry Mulisch   SCHWARZES LICHT

    Roman 

    Im Nachruf auf Harry Mulisch schrieb Cees Nooteboom, er ziehe dessen Roman Schwarzes Licht seinen berühmteren Texten vor.

    Aus dem Niederländischen neu übersetzt von Gregor Seferens

    WAT 760. 144 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

    Junge Autoren bei Wagenbach

    Paola Soriga   WO ROM AUFHÖRT 

    Die Geschichte eines sardischen Mädchens in Rom, kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Geschrieben von einer italienischen Autorin, die mit diesem Buch über ihre eigene Generation nachdenkt.

    Aus dem Italienischen von Antje Peter

    Quartbuch. 160 Seiten

    Owen Martell   INTERMISSION

    Zwei Brüder. Zwei musikalische Talente. Ein Klavier. Und eine Familie, die nur über die Musik kommuniziert.

    Aus dem Englischen von Anke C. Burger

    Quartbuch. 176 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

    Eva Roman   SIEBENBRUNN

    Welf ist weg. Und zwar endgültig. Jeanne bleibt zurück, allein im kalten Gutshaus und hilft sich jeden Tag von neuem selbst auf die Füße. Ein nachdenklicher Roman über Abschiede, Erinnerungen und den mutigen Trotz des Weiterlebens.

    Quartbuch. 128 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

    Arthur Larrue   WOJNA 

    In diesem sprühenden Roman zeigt Arthur Larrue mit viel Komik ein ernstes Bild des heutigen Russlands, in dem sich mutige Künstler gegen die rigide Staatsmacht auflehnen.

    Aus dem Französischen von Max Stadler

    Quartbuch. 112 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

    Orfa Alarcón   KÖNIGIN UND KOJOTEN 

    Was als Romanze beginnt, wird in einer Gesellschaft, in der Geld und Statussymbole wichtiger sind als alles andere, schnell zu einem Spiel auf Leben und Tod. Und Fernanda, die Heldin dieses furiosen Romandebüts, spielt mit.

    Aus dem mexikanischen Spanisch von Angelica Ammar

    Quartbuch. 192 Seiten

    Auch als

    E-Book

    erhältlich

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    EINS

    »Die Leiche kommt immer wieder hoch«, sagte die Frau. »Die Leute denken nur, man kann einfach verschwinden.«

    Sie hieß Joke und trug dunkellila Schlabberkleider. Ich hatte sie in letzter Zeit eindeutig zu oft zu Besuch gehabt; Polizisten schickt man nicht fort, man bietet ihnen Kaffee an. Wenn sie öfter kommen, als einem lieb ist, lässt man sich nichts anmerken, so anstrengend das auch sein mag – sie sind schließlich die Einzigen, die einem noch helfen können. Man besorgt Apfelkuchen, als ob das irgendetwas bringen würde, als ob sie wegen dieses Stücks Kuchen länger und gründlicher suchen würden. Man empfängt sie mit gut gespielter Herzlichkeit. Aber dafür war es jetzt zu spät, das sah ich ihnen bereits an, als ich die Tür aufmachte. Trotzdem ließ ich sie herein. Es gibt Verhaltensmaßregeln für solche Situationen, das hatten sie bestimmt geübt.

    Ihre Stimme klang irgendwie falsch.

    Sie waren gekommen, um den Satz zu sagen, den ich nicht hören wollte. Eigentlich hätte ich mir jetzt die Ohren zuhalten und laut singen, ein Geräusch machen müssen, egal welches, Hauptsache laut genug, um ihre Nachricht zu übertönen, sie rückgängig zu machen.

    »Sie denken, ›ich mach Schluss, und das war’s dann‹. Aber die Leiche kommt immer wieder hoch.«

    »Es tut uns wahnsinnig leid, Mevrouw«, wurde sie von ihrem Kollegen unterbrochen. Er hieß Walter und hatte die Angewohnheit, die Daumen in den Bund seiner Jeans einzuhaken: wie ein Cowboy in einem schlechten Film. Ich fragte mich, ob er häufig Krimis sah und ihnen nacheiferte, denn er hatte etwas Grimmiges an sich, das gar nicht zu ihm passen wollte.

    Ich bot ihnen was zu trinken an, aber sie lehnten höflich ab. Trotzdem stand ich auf und machte ihnen einen Tee. Sie bedankten sich, rührten ihre Becher dann aber nicht an.

    Sie hatten seinen Namen nach wie vor nicht genannt, es konnte sich immer noch um jemand anders handeln, um eine andere Leiche. Sie fragten, ob ich Mark anrufen wolle, und ich sagte, der sei gerade in Nairobi. »Da hat er geschäftlich häufiger zu tun.«

    Das interessierte sie nicht, aber ich wollte das Gespräch in Gang halten, wollte über alles reden – nur nicht darüber. Ich erzählte, dass Mark wahrscheinlich genau in diesem Moment auf dem Rückflug sei, dass man ihn nicht erreichen könne.

    Ob es sonst noch jemanden gäbe. Oder ob sie jemanden zum Flughafen schicken sollten. Jokes Stimme war inzwischen voller Mitleid.

    »Ich schaff das schon«, sagte ich. »Danke.«

    Ich weigerte mich, so zu tun, als hätte es die letzten Monate nicht gegeben. Walter räusperte sich. »Jetzt ist das unvorstellbar, aber in der Regel ist es besser so: Besser man weiß, dass jemand tot ist, als dass er vermisst bleibt.«

    »Er heißt Boy«, sagte ich.

    »Wenn man weiß, dass jemand tot ist, kann man irgendwann damit abschließen. Natürlich nie ganz, aber man kommt gewissermaßen zur Ruhe, das ständige Hoffen fällt weg.«

    »Das Leben geht weiter«, sagte ich sarkastisch, und jetzt war es die Frau, die ihn unterbrach, mir viel Kraft wünschte und sagte, ich könne sie jederzeit anrufen.

    Ich begleitete sie zur Tür. Erst nachdem ich sie ruhig und beherrscht geschlossen hatte, ließ ich mich zu Boden gleiten und stemmte mich mit angezogenen Knien und um den Oberkörper geschlungenen Armen dagegen, so als könnte ich die Katastrophe jetzt noch abwenden.

    Die Toten kommen immer wieder hoch, und vielleicht fertigen wir deshalb Grabsteine aus glänzendem, aber schwerem Marmor für sie an, Türen, die nie mehr geöffnet zu werden brauchen. Rituale gibt es schließlich nicht umsonst: Dass wir die Toten zurechtmachen, damit sie so aussehen wie vorher. Dass wir ihnen die Wangen rot malen und sie in ihre besten Kleider stecken. Dass wir Karten schreiben und sie allen schicken, um den Tod zu verkünden. Wir bitten alle, die uns nahestehen, für uns da zu sein, wenn der Sarg in die Erde gelassen und unseren Blicken entzogen wird. Uns beizustehen, wenn wir Abschied nehmen. Egal, wie fern uns der Tote ist, egal, wie alt er war: Wir erkennen uns in ihm wieder, begreifen, dass auch unsere Zeit bald abgelaufen ist. Und deshalb lachen wir zu laut und bestellen schon vorher Kaffee und Kuchen, denn solange wir essen, leben wir. Aber wenn ein Kind stirbt, will niemand etwas essen, dann machen sich die Trauergäste nach der Zeremonie so schnell wie möglich aus dem Staub, und niemand wagt zu sagen, wie friedlich es doch daliegt.

    Nicht, dass es sich so abgespielt hat: Boy ist in einem geschlossenen Sarg beerdigt worden. Schließlich ist er zu lang vermisst gewesen.

    Ich hatte gefragt, ob ich ihn sehen darf, denn auf einmal war das mein sehnlichster Wunsch.

    Die Frau räusperte sich. »Sie müssen verstehen, dass die Zeit …« – ich war schon dabei, meine Jacke anzuziehen – »… dass die Zeit, die Boy im Wasser gelegen hat … Dass so eine lange Zeit bei unserem Klima … Dass es ihn nicht mehr gibt. Nicht so, wie Sie ihn gekannt haben.«

    Dass er keine Haut mehr hatte, meinte sie wohl, beziehungsweise nicht so wie wir. Keine Haut, keine Muskeln, kein Fett, kein Gesicht.

    Die angespülte Leiche meines Sohnes ist von einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger und dessen Hund entdeckt worden. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie sich das genau abgespielt hat, ob es eine Frau war, die ihn gefunden hat, und was das für ein Hund war. Wie sie dort beide gestanden haben und im Sand eingesunken sind. Ich stelle mir eine kleine dicke Frau vor, mit grauen Haaren und einem Dufflecoat, denn es war kalt am Meer. In meiner Vorstellung ist ihr Hund nicht so ein Kläffer, der mit dem Knochen abhaut, sondern ein Schäferhund oder so. Ein treues Tier, das neben Boy stehengeblieben ist und sein Frauchen bellend alarmiert hat. Ich stelle mir vor, dass sie ihren breiten Schal abgenommen und Boy damit zugedeckt hat, bevor sie die Polizei rief. Ich hoffe, dass sie nicht abrupt zurückgewichen ist, was man wahrscheinlich tut, wenn man eine Leiche findet. (Eines dieser Worte, die man nicht in den Mund nehmen will, das alle, einschließlich des Bestatters, sorgfältig vermeiden, bis einem ganz schlecht wird von den Euphemismen – davon wie einen alle schonen wollen. Dabei hat man jetzt einen rabenschwarzen Humor, den niemand versteht, weil keiner begreift, dass es gar nicht anders geht.)

    An dem Tag, an dem Boy nicht nach Hause gekommen ist, habe ich mir keine Sorgen gemacht. Ich hatte keinerlei Vorahnung, habe nicht gespürt, dass irgendwas nicht stimmt. Vielleicht habe ich noch vor mich hin gepfiffen, als er schon längst tot war. Vielleicht dachte ich an unsere Pläne fürs Wochenende oder für die darauffolgende Woche, an meine durchgetakteten Termine und den bevorstehenden Urlaub.

    Wann habe ich zum ersten Mal auf die Uhr gesehen?

    Ich hatte meine Termine. Ich hörte den Patienten zu, die ihr Leben vor mir ausbreiteten und hofften, dass ich sie mit einer Pille heilen kann. Ich machte sie auf ihre Eigenverantwortung aufmerksam. Ich begrüßte sie mit einem festen Händedruck, wenn sie mit der Angst hereinkamen, mir in die Augen zu schauen. Ich legte Wärme in meine Stimme, wofür sie dankbar waren. Sie wussten, dass meine Zeit kostbar war, und schauten zu mir auf, glaubten, ich hätte eine Macht, die sie nicht haben, oder zumindest Medikamente. Ich erklärte ihnen, dass sie ihre Gedanken beeinflussen können. Einer nach dem anderen zählte mir seine Beschwerden auf: die Schlaflosigkeit, die zuckenden Beine, die düsteren Gedanken, die einfach nicht weichen wollen. Ich stellte Rezepte aus und las Patientenakten, während das Wasser vermutlich schon an meinem Kind zerrte. Ich wählte die Nummer einer Versicherung, aber keine Notrufnummer. Und ich holte keine Hilfe.

    Ich will sie wachrütteln, die Frau, die ich einmal gewesen bin. Ich will ihr sagen, dass sie ans Meer muss, jetzt sofort, und dass es fast zu spät ist. Sie hört mich nicht. Sie sitzt zwischen Rigipswänden und hört sich das Gejammer Wildfremder an, die ihr nicht das Geringste bedeuten. Vielleicht lag es doch an der fehlenden Blutsverwandtschaft. Vielleicht ist er ihrem Körper fremdgeblieben, war letztlich doch ein Kuckuckskind.

    Dass ich diese Frau bin, ist mir unbegreiflich.

    Zunächst dachte die Polizei, er sei ausgerissen und werde von alleine wieder auftauchen. Deshalb suchte ich auf eigene Faust nach ihm, hängte Zettel auf und fuhr stundenlang durch die Stadt. Hielt bei jedem Jungen, der ihm auch nur entfernt ähnlich sah, bei jedem, der seine Statur hatte. Nachdem ich eine Ewigkeit so nach ihm gesucht hatte, begann ich die Leute zu verdächtigen, sie hätten meinen Boy verschluckt, sein Lachen oder seinen Gang gestohlen, ihn sich gewissermaßen einverleibt. Nur seine Stimme, die hörte ich nie. Das war keine Suche, die ich allein bewältigen konnte. Ich war realistisch genug, das zu begreifen. Wenn ich auf dem Markt suchte, dachte ich: Was, wenn er jetzt am Hauptplatz ist? Und wenn ich auf den Hauptplatz ging: Was, wenn er jetzt zum Markt gegangen ist? Natürlich habe ich Zettel an Straßenlaternen gehängt. Aber ich hätte Unterstützung gebraucht, um auch nur die geringste Chance zu haben, ihn zu finden – mal ganz abgesehen davon, dass er zu diesem Zeitpunkt vermutlich längst tot war.

    Später, als endlich alle begriffen hatten, dass es ernst war, wollten sie plötzlich helfen: Nachbarn, Bekannte, Lehrer, Schüler. Scharenweise stellten sie sich zur Verfügung, hörten aber bald wieder damit auf. Für sie war das ein Zeitvertreib. Es ging ihnen nicht um ihn, sie wollten bloß der Held sein, der ihn findet.

    Ich lief auch durch die Dünen, allein. Das war noch viel schlimmer. Ich wusste nicht, wo ich suchen sollte beziehungsweise wonach. Schließlich wollte ich ja nichts finden, jedenfalls nicht seine Leiche. Denn dann hätte ich nichts mehr für ihn tun können, ihm keine getrockneten Aprikosen und kein Steak mehr vorsetzen, geschweige denn ihm einen Apfel schälen wegen des Vitamin C. Dass ich sie auf keinen Fall finden durfte, dass das ausgeschlossen war, war mir klar.

    Abends kam ich an Sportplätzen vorbei, wo Flutlicht das Spiel von Jungs in seinem Alter beleuchtete, während die Mütter bereits im Auto auf sie warteten. Manchmal stand ich den ganzen Abend auf so einem Parkplatz und sah zu, wie all die Mütter die Türen ihrer Geländewagen aufhielten, um ihre Söhne in Empfang zu nehmen. Wie das Licht im Auto kurz aufleuchtete, während der Junge nach dem richtigen Radiosender suchte, und wie dann eine Mutter nach der anderen den Motor anließ und mit ihm auf dem Beifahrersitz nach Hause fuhr, wohlbehütet in ihrem Faraday’schen Käfig. Ich wartete, während sich der Parkplatz langsam leerte und das Flutlicht sowie der Motorenlärm verebbten. Übrig blieben die Jungen, die schlingernd mit dem Rad nach Hause rasten, ihre Kapuzenjacken, Atemwölkchen und ausgelassenen Stimmen in der Dunkelheit.

    Aber Boy hat sich nie etwas aus Sport gemacht.

    Wenn Freunde von ihm zum Spielen kamen – was nicht gerade oft geschah –, waren es eher schmächtige Jüngelchen. Selbst als er schon vierzehn war: immer noch diese Jüngelchen mit Brille, Hochwasserhose und den falschen Pullovern. Oder mit Hemden, bis obenhin zugeknöpft. Sie sagten nie Guten Tag, sondern schauten stets auf den Boden. Wenn ich zu Hause war, brachte ich Chocomel oder Tee in Boys Zimmer, und dort saß er dann, stocksteif neben so einem Jüngelchen, so einem krummen Jüngelchen, das seine Finger nicht von der Spielkonsole lassen konnte. War er wieder allein, fragte ich, was er bloß davon hätte, woraufhin er sagte: »Wir spielen ums Leben.« Ich verstand erst nicht, was er damit meinte, aber dann erklärte er mir, dass das Jüngelchen so lange spielen durfte, bis seine Figur starb. Nur dass es nie dazu kam. Typisch Boy: Er saß einfach bloß da und wartete, bis er auch mal an der Reihe war. Ich hätte den Jüngelchen, den kleinen Egoisten, beim nächsten Mal am liebsten eine Ohrfeige verpasst.

    Boy war nicht von zu Hause weggelaufen, und er hatte auch nicht Selbstmord begangen.

    Jemand, der den ganzen Nachmittag wartet, bis er mit so einem Ding spielen darf, immer wieder, läuft nicht von zu Hause fort. Zumindest nicht, um nach etwas zu suchen, um etwas zu bekommen, das er zu Hause nicht bekommt, wie die Polizei behauptet hat. Als er noch klein war, war er so ein schönes Kind! Wenn ich mit ihm rausging, drehten sich alle nach uns um, besser gesagt nach ihm. Wenn wir die Enten fütterten und die Sonne auf dem Waser glitzerte. Wenn er anfänglich zögerte, loszuschwimmen. Wenn er einen Hund streichelte. Wenn er sagte, dass er einen Stein ins Wasser werfen könne und es dann Wellen gebe, und fragte, ob man eigentlich auch Wasser in einen Stein verwandeln könne. Wenn er sich darüber wunderte, dass die aufspritzenden Tropfen partout nicht zu einem massiven, schweren Stein werden wollten, und er es hartnäckig weiterversuchte. Wenn ich ihn auf die Blüten in den Bäumen aufmerksam machte und er ganz große Augen bekam.

    Damals ist mir förmlich das Herz übergegangen.

    Glück ist auch so ein Wort, so ein leerer Begriff. Aber wenn ich morgens wach wurde, spürte ich förmlich, wie sich mein ganzer Körper öffnete. Ich war so hart und abgestumpft geworden in der Zeit vor Boy. Ich war kein angenehmer Ort, war es nicht mehr gewohnt, etwas in mir aufzunehmen. Ganz langsam machte er mich weniger unwirtlich.

    Als uns die Polizei endlich ernst nahm, bat sie uns um eine Personenbeschreibung. Sie wollte Fotos, möglichst aktuelle, wollte wissen, was für ein Typ er war. Wer waren seine Freunde, welche Hobbys hatte er, was machte er so – nur wie beschreibt man in wenigen Worten sein eigenes Kind? Boy ließ gerne Drachen steigen, beobachtete mit Begeisterung Vögel und liebte Vanilleeis. Obwohl er vierzehn – »fast fünfzehn« – war, konnte es vorkommen, dass er Angst im Dunkeln hatte und schreiend aus einem Albtraum hochschreckte.

    Schon Jahre vor seinem Verschwinden hatte er sich in eine Welt zurückgezogen, zu der ich keinen Zutritt hatte. Er war scheu geworden. Ich wartete nachmittags mit Tee, Keksen und der Frage auf ihn, »Wie war’s heute in der Schule?«, wohl wissend, dass er sagen würde: »Gut.«

    »Habt ihr noch was Schönes gemacht?«

    »Nein.«

    Daraufhin ging er mit verschlossener Miene nach oben. Wenn er nicht hinter seiner Spielkonsole saß, verschwand er stundenlang allein in den nahe gelegenen Dünen, einen Skizzenblock unterm Arm. Mark meinte, ich solle mir nicht so viel Sorgen

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