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Erzähltextanalyse [German-language Edition]: Modelle, Kategorien, Parameter
Erzähltextanalyse [German-language Edition]: Modelle, Kategorien, Parameter
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Erzähltextanalyse [German-language Edition]: Modelle, Kategorien, Parameter

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About this ebook

This comprehensive and systematic text book provides teachers and students alike with a profound, yet concise reference for the analysis of narrative texts. It provides appropriate and differentiated terminological and methodological tools to all the questions that arise when analyzing a narrative text. An advantage of this textbook is that the narrative theory models and concepts are presented in understandable and operational analytical categories and parameters and illustrated by tables and matrices to help make the sophisticated analysis easier to understand and memorize. Exemplary model analyses are provided to present and test the performance of this method.This book is valuable not only to literary scholars but is also suitable to teachers and students.Lehrende und Studierende, die einen Erzähltext analysieren wollen, finden in diesem umfassenden, systematischen, profunden und zugleich übersichtlichen Lehrbuch und Nachschlagewerk ein geeignetes und differenziertes terminologisches und methodisches Instrumentarium, um alle Fragen, die bei der Analyse eines Erzähltextes auftauchen, beantworten zu können. Ein Vorzug des vorliegenden Handbuches besteht darin, dass die erzähltheoretischen Modelle und Konzepte in verständliche und operative analytische Kategorien und Parameter umgesetzt und durch Tabellen, Matrizen und graphische Darstellung veranschaulicht werden, um die anspruchsvollen analytischen Raster besser fass- und memorierbar zu machen. In exemplarischen Musteranalysen wird die Leistungsfähigkeit der vorliegenden Erzähltextanalyse erprobt. Das Buch wendet sich nicht nur an Literaturwissenschaftler, sondern ist auch für Lehrkräfte und Schüler geeignet

LanguageEnglish
PublisherIbidem Press
Release dateMar 1, 2014
ISBN9783838267197
Erzähltextanalyse [German-language Edition]: Modelle, Kategorien, Parameter

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    Book preview

    Erzähltextanalyse [German-language Edition] - Meinhard Mair

    1. Der Inhalt des Erzähltextes

    Die Analyse des Inhalts von Erzählungen wird in folgende Bereiche gegliedert: Elemente des Inhalts (aus welchen empirischen Bausteinen besteht die Geschichte im Erzähltext?), Elemente der Handlung (aus welchen funktionalen Bausteinen besteht die Geschichte?), Elemente des Gehalts (welche vor-, über- und außerliterarischen Inhalte sind im Erzähltext vorhanden?), erzählte Welten (welche Arten von Welten werden im Erzähltext dargestellt?) und Erzähltextgenres (welche Hauptgattungen von Erzähltexten gibt es?).

    1.1 Konkrete Konstituenten des Inhalts

    Die Analyse der konkreten Konstituenten des Inhalts antwortet auf die Fragen: Weist die Geschichte eines Erzähltextes unterschiedliche Bestandteile auf? Weisen die unterschiedlichen Bestandteile der Geschichte unterschiedliche Merkmale auf und welche? Können die unterschiedlichen Merkmale der unterschiedlichen Bestandteile der Geschichte zu einigen wenigen Gruppen oder Arten der Bestandteile zusammengefasst werden und zu welchen? Weist die Handlung eines Erzähltextes unterschiedliche Elemente auf? Weisen die unterschiedlichen Elemente der Handlung unterschiedliche Grundfunktionen auf und welche? Können die unterschiedlichen Grundfunktionen der Handlungselemente zu einigen wenigen Gruppen oder Typen der Handlungselemente zusammengefasst werden und zu welchen?

    Ein einfaches Modell der Analyse der Bestandteile der Geschichte unterscheidet einerseits zwischen belebten und unbelebten, andererseits zwischen dynamischen und statischen Bestandteilen der Geschichte. Die Kombination der vier Unterscheidungsmerkmale liefert eine kleine Menge von analytischen Kategorien, mit denen die gesamte Menge der Bestandteile einer Geschichte differenziert und zugeordnet werden kann. Die unbelebt-dynamischen Bestandteile sind die Zustände der Räume und Objekte der erzählten Welt, in der die Geschichte stattfindet. Die unbelebt-dynamischen Bestandteile sind die Geschehnisse und Ereignisse der Geschichte. Die belebt-statischen Bestandteile sind die Eigenschaften der Figuren. Die belebt-dynamischen Bestandteile der Geschichte sind die Figurenhandlungen.

    Eine umfassende Analyse der Bestandteile der Geschichte ist aufgrund des analytischen und synthetischen Aufwands (nur) für kurze Erzähltexte oder für kürzere Abschnitte von langen Erzähltexten durchführbar. Die empirische Analyse der Bestandteile der Geschichte der Parabel „Gib’s auf" von Franz Kafka liefert folgendes Ergebnis:

    Der Informationswert der Analyse der Bestandteile einer Geschichte besteht darin, dass man begründen und belegen kann, welche Bestandteile in einem Text dominieren. Nach der Dominanz eines Bestandteils der vier Bestandteile der Geschichte können vier inhaltsorientierte Typen der Erzähltexte oder Erzähltexttypen unterschieden werden: handlungsorientierte Erzähltexte (Abenteuergeschichten, Märchen, historische Romane), eigenschaftsorientierte Erzähltexte (psychologische Novelle, Parabel, Bildungs- oder Künstlerroman), ereignisorientierte Erzähltexte (Darstellung eines Unwetters oder einer Naturkatastrophe, Großstadtroman) und zustandsorientierte Erzähltexte (Naturschilderung, Beschreibung von Räumen, Orten, Objekten und Figuren).

    Die Analyse der Bestandteile der Geschichte in der Parabel „Gib’s auf zeigt, dass die dominierenden Bestandteile die Figurenhandlungen und die Figureneigenschaften sind. Trotzdem würde man diesen Text nicht dem Typ der handlungsorientierten Erzähltexte zuordnen, da die Eigenschaften des Erzählers und die Handlungen der Schutzmann-Figur die Handlungen des Ich-Erzählers behindern oder verhindern. Damit dominieren die (negativen und negierenden) Figureneigenschaften zwar nicht quantitativ über die Figurenhandlungen, aber qualitativ. Die Parabel „Gib’s auf gehört zum Typ der eigenschaftsorientierten (psychologischen) Erzähltexte; dieser Erzähltext stellt die charakterliche und mentale (nicht kognitive) Schwäche der antiheldisch konzipierten Ich-Figur bloß. Die Analyse der Bestandteile einer Geschichte kann hilfreich, aber nicht ausreichend für die Zuordnung eines Erzähltextes zu Erzähltexttypen und für die Interpretation eines Erzähltextes sein. Deshalb unterscheidet das Modell der Elemente der Handlung die Bestandteile der Geschichte nicht nach ihren Merkmalen, sondern nach ihrer Bedeutung, Wichtigkeit oder Funktion innerhalb der Geschichte; die Funktion der Bestandteile der Geschichte generiert die Elemente der Handlung. Die (nur) beschreibenden und hintergrundbildenden Bestandteile und alle Figurenhandlungen, Ereignisse und Motive, die für das Verständnis und die Interpretation der Geschichte nicht notwendig sind, werden Informationen genannt. Die echten charakterisierenden und darstellenden Bestandteile einer Geschichte und alle Ereignisse oder Motive, die für das Verständnis und die Interpretation der Geschichte notwendig oder wichtig sind, werden Indizes genannt. Die funktionalen Bestandteile einer Geschichte, die hingegen nur eine scheinbare handlungsgenerierende, handlungstreibende und handlungsschließende Funktion haben, werden Satelliten genannt Die funktionalen Bestandteile einer Geschichte, die eine echte handlungsgenerierende, handlungstreibende und handlungsschließende Funktion haben, werden Kerne genannt. Die handlungsorientiert wichtigen und interpretatorisch notwendigen Bestandteile einer Geschichte sind also die funktionalen Kerne und die Indizes. Die handlungsorientiert unwichtigen und interpretatorisch nicht notwendigen und insgesamt hintergrund- und illusionsbildenden Bestandteile des Erzähldiskurses sind die Satelliten und die Informationen (Beiwerk). Die Analyse der Herkunft und der Dynamik der Bestandteile einer Geschichte erlaubt es nur in geringem Grad, die dynamisch wichtigen von den dynamisch unwichtigen Figurenhandlungen und Ereignissen und die statisch wichtigen von den statisch unwichtigen Eigenschaften und Zuständen zu unterscheiden. Die Analyse und Kategorisierung der Elemente der Handlung nach ihrer (handlungsorientierten) Funktion und (interpretatorischen) Wichtigkeit erlaubt es hingegen, etwas leichter die Kernhandlung der äußeren Handlungen nachzuvollziehen und die Bedeutung der inneren Handlung (z. B. Erkenntnis, Erkennung, Entwicklung, Läuterung) zu verstehen.

    Die funktionale Analyse der Elemente der Handlung der Parabel „Gib’s auf" von Franz Kafka liefert folgendes Ergebnis:

    Die Kernhandlung der Parabel „Gib’s auf" besteht darin, dass ein Ich-Erzähler, der Hilfe braucht, keine Hilfe bekommt. Die charakterisierenden Indizes ergeben das Bild einer ängstlichen, zerstreuten, erschreckten, unselbstständigen, unfähigen und hilfsbedürftigen Ich-Figur, die sich in ihrer Unsicherheit an eine Helfer-Figur wendet, die sich als antagonistische Figur herausstellt. Die Ich-Figur ist grundsätzlich hilfsbedürftig, versagt aber in ihrer grundlegenden Unfähigkeit, die Menschen einzuschätzen, sogar in der Suche nach Hilfe oder einer Helfer-Figur.

    Die vielen unterschiedlichen Ebenenmodelle der Erzähltextkonstituierung bewegen sich im Rahmen von ein, zwei bis maximal sechs Ebenen, wobei die meisten Ebenen-, Schichten-  oder Stratifikationsmodelle der Erzähltextkonstituierung sich jedoch auf drei bis vier konzeptionell homogene Ebenen beschränken. Bei den Ebenenmodellen der Konstituierung des Erzähltextes handelt es sich um abstrahierende oder abstrakte Modelle, die erlauben, die strukturelle Zweigeschichtetheit des literarischen Erzähltextes als eine produktive und kompositionelle Transformation der natürlichen Ordnung der erzählten Ereignisse in eine künstliche Ordnung der erzähldiskursiven Präsentation der Ereignisse zu beschreiben. Vor allem die Drei-Ebenen-Modelle verwenden unterschiedliche Begriffe für weitgehend ähnliche Konzepte, gleiche Begriffe für unterschiedliche Konzepte und sogar gleiche Begriffe für entgegengesetzte Konzepte und berücksichtigen darüber hinaus nicht die gleichen Konzepte. Auf eine genaue Darstellung der einzelnen Drei-Ebenen-Modelle wird hier verzichtet und es werden in reduktiver Weise – durch Nichtbeachtung des Motiv-, event- oder événement-Begriffs – nur jeweils zwei der in den Drei-Ebenen-Modellen verwendeten Begriffe in ihren (möglichst) ursprünglichen Bedeutungen wiedergegeben. Unter fabula wurde ursprünglich die (handlungsrelevante) Totalität der Motive als kleinste Komponenten der Geschichte/Handlung oder Handlungsbausteine (Geschehnisse, Ereignisse und Figurenhandlungen) eines Erzähltextes in ihrer allgemeinen temporalen und logisch-kausalen Verkettung verstanden, unter sjužet die Totalität derselben Motive (Geschehnisse, Ereignisse und Figurenhandlungen) in jener besonderen, eventuell temporal permutierten Abfolge und logisch-kausal emphatisierten Verknüpfung, wie sie dem Leser im Erzähltext linear-progressiv erzählt werden. Unter story wurde ursprünglich die narrative Anordnung von Ereignissen in ihrer zeitlichen Sequenzierung verstanden, unter plot die Emphatisierung des kausalen Zusammenhangs zwischen den zeitlich früheren Ereignissen als Ursachen der zeitlich späteren Ereignisse und den zeitlichen späteren Ereignissen als Wirkungen der zeitlich früheren Ereignisse. Unter histoire wurde ursprünglich die Evozierung einer gewissen (fiktiven) Realität durch den Erzähltext bzw. im metaphorischen Sinne das Signifikat (Bezeichnetes oder Zeicheninhalt) und im eigentlichen Sinn der narrative Inhalt des Erzähltextes verstanden, unter discours die Art und Weise, wie der Erzähler die berichteten, erzählten und fokalisierten Ereignisse der (fiktiven) Realität des Erzähltextes mitteilt oder erkennbar werden lässt, unter récit im metaphorischen Sinn das Signifikant (Bezeichnendes oder Zeichenausdruck) und im eigentlichen Sinn der narrative Text/Diskurs, die Erzählung als der ganze Text oder der Erzähltext selbst und unter narration der produzierende narrative Akt oder der Erzählakt und, durch Übertragung oder Extension der Bedeutung, die gesamte (reale oder) fiktionale Situation, in dem der Akt des Erzählens erfolgt, im Sinn der (lokalen, temporalen, psychologischen und mentalen) Situiertheit des vom Erzähler produzierten Erzählaktes, wodurch narration im weitesten Sinn des im produzierenden Erzählakt Produzierte auch Erzähltext bedeutet und mit récit zusammenfällt. Schon aus diesen minimalen Umschreibungen der Begriffe in den Drei-Ebenen-Modellen wird ersichtlich, dass es sich nicht um analoge Konzepte handelt. Die Vier-Ebenen-Modelle der Konstituierung des Erzähltextes zeichnen sich im Unterschied zu den Drei-Ebenen-Modellen dadurch aus, dass sie unter Verwendung unterschiedlicher begrifflicher Bezeichnungen definitorisch tendenziell konvergieren. Zum histoire-récit-narration-Modell annähernd analoge Vier-Ebenen-Modelle verwenden unter Hinzufügung des mikrostrukturellen event/motivo/Ereignis-Konzepts die Begriffe story-text-narration, story-plot-discourse/narration, fabula-story-text, Fabel-Sujet-Text, acción-relato (oder representatión)-discurso narrativo-(narración) und Geschehen-Geschichte-Text der Geschichte. Das Vier-Ebenen-Modell Geschehen-Geschichte-Erzählung-Präsentation der Erzählung ist als Integrierung der in konzeptioneller Hinsicht teils etwas unterschiedlichen Vier-Ebenen-Modelle zu verstehen: Geschehen ist das implizite Rohmaterial des Erzähltextes; die Geschichte ist die aus dem Geschehen selegierte und zu einer natürlich-chronologischen Ordnung sequenzialisierte Teilmenge des Geschehens; die Erzählung ist das Ergebnis der künstlich geordneten Komposition der Geschichte; Präsentation der Erzählung bedeutet die besondere thematische, perspektivische, darstellungsformale, stilistische und strukturelle Gestaltung. Das derzeit am stärksten erweiterte kanonische Konstituierungsmodell des Erzähltextes ist das Sechs-Ebenen-Modell, das anscheinend auf dem Fünf-Ebenen-Modell motivo-fabula-modello narrativo-intreccio-discorso beruht: Unter dem what oder Was des Erzähltextes ist im ursprünglichen Sinn die Handlung als Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente des Erzählten zu verstehen. Die Handlung kann in vier Ebenen der Konstituierung untergliedert werden: das Ereignis (Motiv) als elementare Handlungseinheit des Erzähltextes, das Geschehen als Chronologie der Ereignisse, die Geschichte als kausale Verknüpfung der Ereignisse und das Handlungsschema als abstrakt-globale, abgeschlossene und sinnhafte Struktur der Geschichte. Unter dem how oder Wie des Erzähltextes ist die Darstellung der Geschichte zu verstehen, bei der zwei Aspekte unterschieden werden können: die Erzählung als Gestaltung eines korrelierenden oder alternierenden Erzählrhythmus bzw. einer konstanten oder variablen Erzählgeschwindigkeit und als zeitliche Umgruppierung der Ereignisse durch Rückwendungen und Vorausdeutungen im Erzähltext und das Erzählen als Präsentation der Geschichte und als mediale (z. B. rein sprachliche oder audio-visuelle) und fokal-perspektivische (z. B. Erzählsituation) bzw. stilistische (z. B. Stilprinzip) Art und Weise dieser Präsentation. Das oben dargestellte (erweiterte oder elaborierte) Stratifikationsmodell der Erzähltextkonstituierung basiert auf allen Ebenenmodellen und vor allem auf dem Sechs-Ebenen-Modell. In einer sehr reduktiven Übersicht lassen sich anhand des Sechs-Ebenen-Modells der Erzähltextkonstituierung folgende Tendenzen zum analogen Gebrauch der unterschiedlichen Begriffsbezeichnungen für die sechs Ebenen darstellen.

    Einzelne Bestandteile der Geschichte und einzelne Elemente der Handlung setzen sich zu immer größeren, vielschichtigen und komplexen Einheiten zusammen, bis sie schließlich – als Gesamtheit aller unbelebten und belebten, statischen und dynamischen inhaltlichen Bestandteile oder funktionalen, charakterisierenden und informativen Handlungselemente – den umfassenden Erzähldiskurs des Erzähltextes ergeben. Das entwickelte Ebenenmodell (Schichten- oder Stratifikationsmodell) der Erzähltextkonstituierung ist der Versuch, die quantitative Vielfalt der einfacheren, überschaubaren Schichten bis hin zu den immer vielschichtiger und unüberschaubarer werdenden Handlungskomplexen in neun begrifflichen Kategorien einzuordnen, zu benennen und die Geschichte oder Handlung mit ihrer Hilfe inhaltlich-strukturell zu analysieren. Erzählte Geschichten oder Handlungen finden in einem Geflecht aus räumlichen und zeitlichen Angaben (kontextueller Rahmen) statt. Geschichten sind in einen kontextuellen Rahmen eingebettet. Der kontextuelle Rahmen von Geschichten besteht aus einer Vielzahl von sinnlichen und kognitiven Einzelwahrnehmungen der äußeren und inneren Welt. Diese sinnlichen und kognitiven Einzelwahrnehmungen stammen entweder vom Erzähler oder den Figuren. Einzelwahrnehmungen sind Geschehnisse, wenn sie eine beschreibende, charakterisierende oder deiktische Funktion haben, der Skizzierung, Abbildung oder Ausgestaltung von Hintergründen und Umständen von Handlungen dienen oder im Zustands- oder Vorgangskontext der erzählten Welt eine unauffällige und unmarkierte Zustandsveränderung prädikativ oder adverbial modifizieren. Geschehnisse und Einzelwahrnehmungen sind Ereignisse, wenn sie eine kausale, finale oder kompositorische Funktion haben, der Entwicklung, Fortführung und Auflösung von Handlungen dienen oder im Zustands- oder Vorgangskontext der erzählten Welt eine auffällige, markierte Änderung darstellen. Geschehnisse, die in Hinblick auf die Motivierung der Handlung von Bedeutung sind oder aufgrund ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung markiert werden, sind Ereignisse. Ereignisse sind (im einzeldiegetischen, erzählliterarischen oder kulturellen Kontext) unerwartete, ungewöhnliche, unvorhersehbare, motivierte und markierte, relevante und handlungsentscheidende Geschehnisse. Ein Ereignis (manchmal auch Motiv genannt) ist demnach die kleinste, elementarste Einheit der Handlung. Die Ereignisse können eine Handlung verändern oder nicht. Ereignisse, die eine Handlung verändern, haben eine dynamische Funktion; Ereignisse, die eine Handlung nicht verändern, haben eine statische Funktion. Nicht jedes einzelne Ereignis muss motiviert sein; es kann auch einfach zur Atmosphärenbildung beitragen oder als Requisit dienen. Neuere, kognitive Ansätze verstehen das Ereignis als Bruch der Erwartungshaltung des Lesers/Rezipienten und unterscheiden drei Typen von Ereignis in der Erzählliteratur: die Deviation vom figuralen Schema, die Deviation vom Erzählschema und die Präsentation der extradiegetischen Erzählperson als Aktant; alle drei kognitiven Typen von Ereignis müssen vom abstrakten Leser gegen den Erzähltext rezipiert und interpretiert werden. Das Tableau ist eine deiktisch beschreibende Momentaufnahme mehrerer Personen in ihrer Position im Raum und ihrer Position zueinander (lebendes Bild). Eine Szene besteht aus einem Dialog von zwei oder mehreren Figuren mit Redeankündigungen und kurzen Handlungsberichten (ähnlich den Regieanweisungen in Theaterstücken). Zudem gibt es in größeren Erzähltexten oft Episoden im Handlungsverlauf, die als solche nicht mit der Gesamthandlung verknüpft sind, sondern einzelne kleine Geschichten innerhalb der Haupthandlung bilden. In der Regel ist die Episode jedoch eine mittlere Handlungseinheit, die aus mehreren Geschehnissen und Ereignissen besteht. Episoden, Sequenzen oder Segmente sind häufig durch die Präsenz derselben Figur oder Figuren, durch den Bezug auf denselben Ereignis- und Handlungsort, durch den Zusammenhang der erzählten Zeit oder durch die Relevanz desselben Themas abgegrenzt und gekennzeichnet. Die Summe der Geschehnisse und Ereignisse in einem Erzähltext ergibt das Geschehen. Das Geschehen ist die amorphe, tendenziell unendliche, aber ästhetisch bereits relevante Menge der Geschehnismomente Situation, Vorgang, Figur, Figureneigenschaft, Figurenhandlung, Raum und Objekt, aus denen die Geschichte hervorgeht. Das Geschehen oder die Story ist die summarische Einheit der aus dem Erzähltext rekonstruierbaren Geschehnisse und Ereignisse in ihrer quasi-empirischen Chronologie oder die chronologische Reihenfolge und Gesamtsequenz aller Geschehnisse und Ereignisse. Seriell und chronologisch aneinander gereihte Geschehnisse werden zu Ereignissen und die chronologisch geordnete Sequenz aus der Teilmenge des Geschehens, die für die Bedeutungsabsicht des Erzähltextes relevant ist, wird zur Geschichte. Die Geschichte umfasst alle Ereignisse, aber nicht alle Geschehnisse. Die Geschichte ist in Abgrenzung zum Geschehen die konkrete, begrenzte, denotierte, explizite, markierte, prädikativ qualifizierte und motivierte Auswahl von bestimmten Geschehnismomenten aus der tendenziell unendlichen Menge der fiktiven Sachverhalte. Zur Geschichte kann auch die Wahl der ideologischen Perspektive und die Implizierung von Unbestimmtheitsstellen gerechnet werden. Werden die Geschehnisse des Geschehens in der Geschichte motiviert, spricht man vom Plot. Einzelgeschehnisse oder ein Gesamtgeschehen werden dadurch motiviert, dass sie nach einer Regel oder Gesetzmäßigkeit auseinander hervorgehen. Indem die aufeinanderfolgenden Geschehnisse motiviert werden, werden sie in einen Erklärungszusammenhang gebracht und in den Rang von Ereignissen erhoben. Die Ereignisse sind jene Geschehnisse, die nicht grundlos aufeinanderfolgen, sondern nach gewissen Zusammenhängen (das müssen aber nicht die Gesetze der wissenschaftlich-physikalischen Welt sein) auseinander hervorgehen. Die Motivierung integriert also das Geschehen (die zeitlich aufeinanderfolgenden Ereignisse) zu einem sinnhaften Zusammenhang (einer Geschichte). Die verbundenen Ereignisse der Geschichte gehen durch Motivierungen über die temporale Sequenz der Geschehnisse im Geschehen hinaus. Es kann zwischen verschiedenen Arten der Motivierung unterschieden werden, jedoch schließen diese einander nicht immer aus. In der kausalen Motivierung wird ein Geschehnis oder eine Figurenhandlung dadurch erklärt, dass sie in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingebettet werden. Ereignisse und Figurenhandlungen erscheinen dann als empirisch wahrscheinlich oder möglich, und zwar innerhalb der erzählten Welt, die im Text dargestellt wird. Die finale Motivierung findet sich vor allem in antiken und mittelalterlichen Erzähltexten, die vor dem Hintergrund einer mythologisch- oder religiös-gläubigen Gesellschaft entstanden sind. Der Handlungsverlauf ist hier von Beginn an festgelegt: Alles, was geschieht, geschieht durch Einwirkung göttlicher Kräfte oder als Fügung einer göttlichen Allmacht. Erzähler, die in ihrer Erzählung die Geschehniskette kausal-logisch oder transzendent-metaphysisch motivieren, erzählen eine Geschichte oder eine Handlung. Die Geschichte oder Handlung bezeichnet die Gesamtheit der relevanten Ereignisse in einem Erzähltext, die zu einer motivierten Einheit integriert sind, indem die Ereignisfolge einen kausalen (psychologischen) oder finalen oder kausal-final gemischten Zusammenhang aufweist. Die Geschichte, die Handlung oder der Plot ist das zu einem kausal oder final motivierten, abgeschlossenen Ganzen integrierte Geschehen. Erzähler, die in ihrer Erzählung auf eine kausal-logische oder transzendent-metaphysische Motivierung der Geschehniskette verzichten, erzählen hingegen ein Geschehen oder eine Story. Die Geschichte darf nicht mit der Story verwechselt werden, auch wenn dies der normalsprachliche Gebrauch der beiden Wörter nahelegt: Die Geschichte ist die motivierte Story, und die motivierte Story ist die Handlung oder der Plot. Der Plot weist als Motivierungsparameter zwei Grade (motiviert oder nichtmotiviert) oder vier Grade (motiviert, hochgradig motiviert, gering motiviert oder nichtmotiviert) auf. In der Erzählung oder im Erzähldiskurs schließlich kann der Erzähler zwischen Bericht und Szene wechseln, er kann die erzählte Zeit raffen, auslassen, unterbrechen oder dehnen, er kann die Geschichte oder Handlung durch Anachronien zeitlich umstrukturieren, er kann die Figuren kommentieren, die Ereignisse in der Figurenperspektive spiegeln oder seine Rolle als Vermittlungsinstanz des Erzählten oder Dargestellten thematisieren. Erzähldiskurs, Erzählung oder Narration meinen die erzähltechnisch oder ästhetisch transformierte Geschichte oder Handlung als Resultat der Motivierung und artifiziell-ästhetischen Komposition der Geschichte durch die obligatorische syntagmatische Linearisierung der simultanen Ereignisse oder Figurenhandlungen und fakultative temporale Permutation der natürlichen, chronologischen Sukzession der Segmente und Sequenzen der Geschichte. In der Erzählung erscheinen die Geschehnisse und Ereignisse der ihnen logisch zugrunde liegenden Geschichte in derjenigen zeitlichen Anordnung, wie sie dem narrativen Adressaten mitgeteilt werden. Zur Erzählung gehört auch die Wahl der perzeptorischen, räumlichen und zeitlichen Perspektive. Der Erzähldiskurs ist vor allem durch die Dehnung der Erzählzeit und die Amplifikation der Geschichte in Form von handlungspausierenden Beschreibungen, verlangsamenden Sequenzierungen von Ereignissen, Kommentaren und Wertungen von Figurenhandlungen, sentenziös-generalisierenden Reflexionen in abschweifenden Digressionen und Exkursen, die sich zu unpersönlichen, objektiven, quasi-wissenschaftlichen und abstrakten Konstrukten ausdehnen können, und von exegetischen, metanarrativen und metafiktionalen Erzählereinmischungen, die die Erzählinstanz und das Erzählverhalten thematisieren oder problematisieren, charakterisiert. Der Erzähltext ist die primär verbale (und nicht primär bildliche, figurative, filmische, mimisch-dialogische, tänzerische oder musikalische) Präsentation der Erzählung. Im Gegensatz zu den vielen möglichen Arten der Präsentation der Erzählung konstituiert die dominant (nicht absolut) verbal-textliche Präsentation des Erzähldiskurses den Erzähltext. Zum Erzähltext gehört auch die Wahl der sprachlich-stilistischen Gestaltung, weshalb er durch die wortkünstlerische Ornamentalisierung, Rhythmisierung, Klangwiederholung, Leitmotivik, parallelistisch-korrespondierende Äquivalenz- und antithetisch-kontrastierende Oppositionsproduktion charakterisiert ist.

    Das Geschehen in der Fabel „Der Wolf und das Lamm" von Phaedrus besteht darin, dass ein Wolf ein Lamm frisst. Die Geschichte in dieser Fabel besteht darin, dass die Geschehnisse begründet werden. Der Wolf kommt zum Bach, weil er durstig ist und trinken will. Zufällig erblickt der Wolf etwas unterhalb am Bach ein Lamm und in ihm erwacht sofort der Instinkt oder Trieb der grausamen, brutalen und aggressiven Machtausübung. Aber der Wolf tötet nicht ohne Umsicht, sondern er sucht einen Vorwand in Gestalt einer Rechtfertigung für seine Gewaltanwendung, um im Falle einer Anklage straffrei ausgehen zu können. Die Rede des Wolfes an das Lamm ist dadurch motiviert, mögliche Rechtfertigungsversuche eines machthungrigen Aggressors dem Leser exemplarisch bekannt zu machen. Doch alle Legitimierungsversuche des Wolfes werden vom Lamm durch völlig rationale, unwiderlegbare und gültige Argumente diskreditiert. Die Rede des Lammes an den Wolf ist dadurch motiviert, zu zeigen, dass es für die Anwendung von aggressiver Brutalität in der imperialistischen Machtpolitik niemals eine Berechtigung geben kann. Trotzdem lässt der Wolf die Maske der völkerrechtlichen Pseudolegalität nicht einfach fallen, sondern postuliert apodiktisch einen beliebigen Vorwand als Grundlage der Legitimierung für seine Gewaltanwendung und zerreißt das Lamm. Damit erweist sich die Vernunft als völlig machtlos gegenüber der skrupellosen Realpolitik. Auch die These der Fabel am Erzählschluss stellt fest, dass unter dem Vorwand völkerrechtlicher Prinzipien, zwischenstaatlicher Verträge und internationaler Bündnissysteme eine nationalistische, chauvinistische und imperialistische Machtpolitik betrieben wird.

    Die narrative Kohärenz oder Erzählkohärenz umfasst alle Faktoren, die dazu beitragen, dass ein Erzähltext inhaltlich zusammenhängt und verständlich ist: lexikalische und semantische Rekurrenz, Variation und Alteration, thematische Progression, Vorhandensein eines zusammenhängenden Ereignisfortschrittes (Geschichte, Handlung, Plot) in einer temporalen Struktur, Fokussierung auf einige Figuren und deren Schicksal, Motivierung der Ereignisse und Figurenhandlungen, Vorhandensein eines universellen Handlungsmusters mit einigen spezifischen Funktionen der Handlung und eventueller Handlungsstruktur, Zielorientierung und Handlungsabschluss. Weitere kognitionspsychologische Kriterien der Kohärenz sind Wahrscheinlichkeit, Informativität, Relevanz und Geordnetheit der Geschehnisse und Ereignisse als der kleinsten Einheiten der Erzählung durch ihre Verknüpfung miteinander und die räumliche oder zeitliche Kontingenz der Geschichte oder Handlung.

    Einer der wichtigsten Faktoren für die Konstruktion von Kohärenz ist über die temporale Struktur oder Sequenzialität hinaus die kausale Geordnetheit oder Kausalität der Ereignisverknüpfung, die auch die Wahrscheinlichkeit des Geschehens umfasst. Die Kausalität ist der vom Leser konstruierte Zusammenhang zwischen mindestens zwei Geschehnissen oder Ereignissen. Der Zusammenhang kann vom Leser als mimetische (erfahrungsmäßige, wahrscheinliche, mögliche, logische) oder diegetische (ästhetische, magische, übernatürliche usw.) Kausalität verstanden werden, wenn die jeweiligen Kausalitätsregeln nicht über das erträgliche Maß strapaziert und einseitig diskreditiert werden oder eine Diskreditierung durch neue Kausalitätsregeln legitimiert wird. Die Kausalität im engen Sinn und die raumzeitliche Kontinuität der erzählten Welt generieren jedenfalls ihre Logik oder Widerspruchsfreiheit auf der Ebene des Dargestellten und das in sich stimmige Verhältnis der narrativen Ebenen und Instanzen zueinander auf der Ebene der Darstellung, wobei die Erzählliteratur einige kanonisierte Verfahren der Inkonsistenz wie die Metalepse aufweist. Aber unter Kausalität im weiten Sinn kann auch die räumliche und zeitliche Kontingenz oder Kontinuität der erzählten Welt gemeint sein. Ein weiteres Modell der Konstituierung der Erzählkohärenz neben der temporalen Sequenzierung (Sequenzialität) und naturwissenschaftlich-psychologisch kausalen Sequenzierung (Kausalität) ist das Parallelismus- oder Äquivalenz-Modell. Das Konzept Parallelismus stammt aus der Kunsttheorie und der Theorie der Prosa. Einige Kunsttheoretiker verstehen die kunstwerkliche Struktur der Dichtung als die eines fortlaufenden Parallelismus und führen sogar jedes Kunstwerk tendenziell auf das Prinzip des Parallelismus zurück. In der formalistischen Theorie der Prosa wird die Ausdehnung der paradigmatischen selektiven Äquivalenz (Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, Synonymie und Antinomie) auf die paradigmatische sequenzielle Achse durch die wiederholende Verdoppelung von Bedeutungen oder den semantischen Parallelismus neben der referenziellen, lexikalisch-stilistischen Verfremdung als Hauptmerkmal der Erzählliteratur betrachtet. Das Konzept Äquivalenz ist vom Konzept Parallelismus abgeleitet und wurde vor allem in Zusammenhang mit dem strukturalistischen Modell der sieben Sprachfunktionen entwickelt. Im strukturalistisch-sprachfunktionalen Modell  projiziert die poetische Sprachfunktion einer Mitteilung das Prinzip der paradigmatischen Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination, wodurch vor allem in der Dichtung oder Poesie die syntagmatische Äquivalenz zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben wird. Somit beruhen im strukturalistisch-sprachfunktionalen Verständnis das empirische linguistische Kriterium der Literarizität oder Poetizität und die unabdingbare Eigenschaft eines Dichtwerks oder Gedichts in Hinblick auf den Aufbau der Sequenz oder die Kombination nicht mehr auf dem Prinzip der Kontiguität, sondern auf dem Prinzip der syntagmatischen Äquivalenz. Die syntagmatische Äquivalenz umfasst im strukturalistisch-sprachfunktionalen Modell phonologische Aspekte (z. B. Reim), tonale Aspekte (z. B. Wortakzent), prosodische Aspekte (z. B. Länge und Kürze), morphologische Aspekte (z. B. Wortgrenze) und syntaktische Aspekte (z. B. Pause). Die reguläre Wiederkehr der formalen, strukturell-binären Äquivalenzen schließt notgedrungen die semantische Beziehung zwischen den syntagmatischen Äquivalenzen ein und zieht unweigerlich semantische Äquivalenz nach sich. Im strukturalistisch-sprachfunktionalen Modell  tendiert nicht nur die phonologische und morphologische Sequenz in der Dichtung, sondern überhaupt jede Sequenz semantischer Einheiten dahin, eine Gleichung zu bauen. Die syntagmatischen Äquivalenzen verleihen der Dichtung auch ihr durch und durch symbolisches, vielfältiges und polysemes Wesen. In der Dichtung ist jede Metonymie leicht metaphorisch und jede Metapher leicht metonymisch gefärbt.  Der Vorrang der poetischen vor der referenziellen Sprachfunktion macht nicht nur den Gegenstandsbezug in der  sprachlichen Botschaft, sondern auch Sender und Empfänger mehrdeutig. Mehrdeutigkeit ist somit im strukturalistisch-sprachfunktionalen Modell eine unabdingbare, unveräußerliche Grundeigenschaft der Dichtung. Neuere erzähltheoretische Ansätze wie das Stratifikationsmodell der Perspektive übertragen das  strukturalistisch-sprachfunktionale, syntagmatische Äquivalenz-Konzept von der Dichtung/Poesie auf die Erzählliteratur. Die narrativen Äquivalenzen umfassen alle analogen und kontrastiven Relationen im Erzähltext auf der inhaltlich-thematischen Ebene (suggestive Leitmotiv-Technik, z. B. das Eisenbahnmotiv im Roman „Anna Karenina" von Leo N. Tolstoi), der fokal-perspektivischen Ebene (Polyperspektivität und Multiperspektivität), der modal-darstellungsformalen Ebene (Korrespondenzfiguren), der sprachlich-stilistischen Ebene (Auktorialisierung der Figurenrede, Kolloquialisierung der Erzählerrede, uneigentliches Erzählen mit idiolektischen figuralen Phrasen in der Erzählerrede) und der kompositionell-strukturellen Ebene (Zweiwegstruktur, episodische Struktur). Ist die situationale oder aktionale Äquivalenz auf eine und dieselbe Figur bezogen, spricht man von isofiguraler Äquivalenz (z. B. die idealisierende Personenwahrnehmung Werthers in Bezug auf Lotte, den alten Pfarrer, den Grafen von C., das Fräulein von B. und die bekrittelnde Personenwahrnehmung Werthers in Bezug auf Herrn Schmidt,  auf Albert und den Gesandten am Hof), ist sie auf eine andere Figur bezogen, spricht man von heterofiguraler Äquivalenz (z. B. der Selbstmord Werthers und die kalkulierte Hinrichtung des Knechts).

    Ein aktuelles Modell der mentalen oder ideologischen Konstituierung der Erzählkohärenz ist das Modell der semantischen Handlungsfunktionen. Das handlungsfunktional-semantische Modell betrachtet die Konstituierung der Erzählkohärenz als Sinnkonstituierung durch die Auswahl (Selegierung) einzelner Handlungsfunktionen, die Hervorhebung (Fokussierung oder Emphatisierung) der selegierten Handlungsfunktionen und die Bedeutungszuweisung (Semantisierung) der emphatisierten Handlungsfunktionen (z. B. Retardation = Planung,  Klimax = Durchführung, Peripetie = Hindernisse, Lösung des epischen Knotens = Ergebnis). Die Modelle der Erzählkohärenz im Überblick:

    Das BMW-Museum erzählt die Geschichte der Firma mittels einer Selegierung zweier Handlungsfunktionen: der Komplikation und der Lösung des epischen Knotens, einer Emphatisierung dieser Handlungsfunktionen durch eine kontinuierliche, parallel-äquivalente Wiederholung und einer Semantisierung der Komplikation als Herausforderung und der Lösung des epischen Knotens als Erfolg. Die selbsterzählte Geschichte der Firma BMW wird somit zu einer ununterbrochenen Kette von Erfolgen, die implizit als Belohnung dafür betrachtet werden, dass die Firma die Herausforderung durch den marktwirtschaftlichen Wettbewerb angenommen hat und weiterhin annimmt. Sebastian Haffner narrativisiert die Deutsche Revolution von 1918/19 als düsteres Drama in drei Szenen durch die Semantisierung der Handlungsfunktion Komplikation als sozialdemokratische und nicht kommunistische Revolution, der Handlungsfunktion Klimax als Verrat der sozialdemokratischen Regierung an der als kommunistisch missverstandenen Revolution, der Handlungsfunktion Peripetie als Verrat der mit der sozialdemokratischen Regierung verbündeten Reichswehr an der Sozialdemokratie in Form der Dolchstoßlegende und der Handlungsfunktion Coda als Strafe des Weltgeistes an den sozialdemokratischen Führern, die von der mit ihr verbündeten Rechten nach dem Sieg über die Revolution zu Tode gehetzt wurden. Manche Erzähltexte enthalten eine handlungsfunktional-semantische Sequenzierung bereits im Titel: „Schuld und Sühne von Fjodor M. Dostojewski, „Der Kaiser ging, die Generäle blieben von Theodor Plivier, „Die Drei Sprünge des Wang-lun" von Alfred Döblin.

    Das weiße Kaninchen, die Raupe und der Märzhase im Roman „Alice im Wunderland" von L. Carroll gehören zu den sprechenden Tieren, der Schildkrötensupperich und der Greif zu den tierischen Mischwesen (tierhybride Wesen) und die Verwandlungen von Alice (in eine Zwergin oder Riesin) gehören in den Bereich der menschenähnlichen Zerrfiguren und können psychoanalytisch als phallische Symbolik (Erektion) interpretiert werden.

    Die Figuren einer Geschichte oder Handlung können mithilfe der Kategorien der Figurengestaltung oder Figurenkonzeption analysiert werden. Die Informationen des Erzählers über die Figuren sind am Ende des Erzähltextes abgeschlossen oder endlich und können vom Leser nicht beliebig erweitert werden. Figuren können vom Erzähler auf der Grundlage eines mimetischen Figurenverständnisses als rigide Charaktere oder Typen oder als autonome und individuelle Personen mit wandlungsfähiger Persönlichkeit gestaltet werden, die im Laufe der Geschichte entweder keine oder eine Veränderung erfahren oder sogar eine Entwicklung durchmachen. Wenn eine Figur ihren Charakter bis zum Ende der Geschichte oder Handlung beibehält oder wenn ihr Charakter gleicht bleibt, wenn sich Figuren nicht verändern, keine Entwicklung durchmachen, nicht einmal einzelne Charakterzüge ablegen und abändern, dann ist die Figur statisch angelegt oder konzipiert und es handelt sich um eine statisch angelegte oder konzipierte Figur. Wenn eine Figur ihren Charakter bis zum Ende der Geschichte oder Handlung hingegen verändert oder wenn ihr Charakter nicht gleicht bleibt, wenn sich Figuren verändern, eine Entwicklung durchmachen, mehrere Charakterzüge ablegen und abändern, dann ist die Figur dynamisch angelegt oder konzipiert und es handelt sich um eine dynamisch angelegte oder konzipierte Figur. Somit zeigen sich Figuren in der Synthese aller im Verlauf des Erzähltextes vom Erzähler vergebenen Informationen als statisch oder dynamisch. Figuren können des Weiteren als Figurenmodell (Typus) oder als Person konzipiert werden, die mehr oder weniger eine eigene Persönlichkeit, einen eigenen Charakter und eine eigene Individualität besitzen. Wenn der Charakter einer Figur mit nur wenigen Merkmalen ausgestattet ist, wenn kein Bild einer individuellen Persönlichkeit der Figur entsteht, wenn es sich bei der Figur eher um eine bestimmte Stereotype handelt oder die Figur auf der Basis einer einzigen Idee oder Eigenschaft festgelegt oder konzipiert ist, dann handelt es sich um eine einfache und flache, eindimensional konzipierte oder eindimensionale Figur. Quelle von Vereinfachungen und Typisierungen erzählter Figuren, die auch karikaturale Züge annehmen können, sind der Habitus oder eingefahrene Handlungsstrukturen von realen Personen (der Geizige, der Menschenfeind, der Frauenhasser, der eifersüchtige Ehemann) oder soziale Vorurteile (typisch Frau, typisch Mann, der Ausländer, der Jude). Insbesondere der Schluss vom sinnlich wahrnehmbaren Äußeren aufs Innere führt häufig zu figuralen Schemen. Wenn hingegen der Charakter einer Figur mit vielen verschiedenartigen und sich je nach Situation wechselnden Merkmalen ausgestattet ist, wenn das Bild einer individuellen, vielschichtigen und schillernden Persönlichkeit der Figur entsteht, wenn es sich bei der Figur nicht um eine bestimmte Stereotype handelt oder die Figur nicht auf der Basis von mehreren Eigenschaften oder Ideen festgelegt oder konzipiert ist und mit unerwarteten Verhaltensweisen und unkonventionellen Denkweisen aufwartet, dann handelt es sich um eine runde, mehrdimensional oder komplex konzipierte oder komplexe Figur. Quelle von vielschichtigen Figuren ist häufig die Mimesis historischer Persönlichkeiten und realer Individuen mit ausgeprägten Charakterzügen. Figurenmodelle erscheinen in Erzählungen als Stereotype innerhalb von Klischees, individualisierte Personen erscheinen in Erzählungen als Charaktere innerhalb von Handlungen. Ein geringer Merkmalsatz von Wesenszügen macht eine Figur flach oder eindimensional, eine Vielzahl von Eigenschaften und Verhaltensweisen macht sie rund, plastisch oder komplex. Somit zeigen sich Figuren in der Synthese aller im Verlauf des Erzähltextes vom Erzähler vergebenen Informationen als flach und eindimensional oder rund und komplex. Wenn der Charakter einer Figur zwar vielseitig, nachvollziehbar und in sich abgerundet erscheint, aber grundsätzlich gesehen wenig Entwicklungspotential in sich und ihren sozialen Beziehungen aufweist, dann handelt es sich um eine geschlossen angelegte oder geschlossene Figur. Wenn hingegen die Figur rätselhaft wirkt, wenn die Motive des Fühlens, Denkens und Handelns einer Figur letztlich ungeklärt bleiben, ist die Figur offen angelegt oder es handelt sich um eine offene Figur. Die offen konzipierte Figur schafft wegen der Unvollständigkeit oder Widersprüchlichkeit der Informationen eine rezeptionsästhetische Ambiguität. Die geschlossen konzipierte Figur ist dagegen in der Empfindung und Wahrnehmung des Lesers vollständig präsentiert und damit eindeutig. Somit zeigen sich Figuren in der Synthese aller im Verlauf des Erzähltextes vom Erzähler vergebenen Informationen als geschlossen und eindeutig oder offen und mehrdeutig.

    Die sechs analytischen Parameter der Figurenkonzeption (statisch oder dynamisch, flach oder rund, geschlossen oder offen) können miteinander zu acht Typen der Figurenkonzeption kombiniert werden: eine Figur kann jeweils nur einen Parameter innerhalb der drei binär-oppositionellen Kategorienpaare besitzen oder aufweisen. Eine Figur kann nicht zugleich statisch und dynamisch oder zugleich flach und komplex oder zugleich geschlossen und offen sein, aber sie kann z. B. zugleich statisch, flach und geschlossen sein: diese Figur weist einen rigiden, unveränderlichen Charakter auf, besitzt einen geringen Merkmalsatz von Wesenszügen und erscheint vollständig präsentiert und damit eindeutig. Andererseits kann eine Figur z. B. dynamisch, komplex und geschlossen sein: diese Figur weist einen entwicklungsfähigen, sich eventuell sogar tatsächlich verändernden Charakter auf, besitzt eine Vielzahl von Eigenschaften und Verhaltensweisen, erscheint jedoch in der Synthese aller im Verlauf des Textes vergebenen Informationen als vollständig präsentiert, in sich abgerundet und damit eindeutig interpretierbar. Schließlich kann eine Figur z. B. dynamisch, komplex und offen sein: diese Figur weist einen entwicklungsfähigen, wandlungsfähigen und veränderbaren Charakter auf, besitzt eine Vielzahl von Eigenschaften und Verhaltensweisen und erscheint wahrscheinlich gerade deshalb in der Synthese aller im Verlauf des Textes vergebenen Informationen als in sich widersprüchlich oder unabgeschlossen und damit mehrdeutig interpretierbar. Eindimensional-flache (oder dynamisch-flache) und statische Figuren sind häufig auch völlig definierte, geschlossene Figuren. Mehrdimensionale und dynamische Figuren sind entweder aufgrund ihrer äußeren und inneren Transparenz völlig definiert und geschlossen oder aufgrund ihrer inneren Ambiguität offen und sogar mysteriös.

    Die Figur Herzog Ernst im gleichnamigen Erzähltext des Pfaffen Lamprecht wird am Beginn der Geschichte als ideale ritterlich-adlige Figur dargestellt; doch in der legitimen Verteidigungsposition reagiert er auf die Angriffe des Kaisers mit entschlossener und konsequenter Gewaltanwendung. Als er durch göttliche Eingebung von der Verleumdung des Pfalzgrafen Heinrich erfährt, tötet er diesen und er will sogar den Kaiser töten. Der Herzog Ernst übertreibt die Gewaltanwendung aufgrund des Mordversuches am Kaiser, der auch sein Stiefvater ist, in zweifacher Hinsicht: Hochverrat und versuchter Vatermord. Angesichts der Gegenoffensive des Kaisers bittet Herzog Ernst den Sachsenherzog um Unterstützung; den Bürgern seiner Stadt Regensburg, die vom kaiserlichen Heer belagert wird, rät er den Verzicht auf Verteidigung und Gewalt. Als er die Ausweglosigkeit seiner Situation erkennt, weicht Herzog Ernst durch die Flucht in ein vorübergehendes Exil aus. In der orientalischen Fremde macht er sich den Kranichmenschen gegenüber des Hausfriedensbruchs, des Mundraubs, der Neugier und der Überheblichkeit über andersartige Gottesgeschöpfe schuldig, erweist sich aber in der Rache am Mord der indischen Prinzessin durch die Kranichmenschen als tapfer und sippentreu. Gleichzeitig beginnt aber der Herzog Ernst seine Sünden einzusehen und Buße zu tun. Er verzichtet auf unnötige Gewaltanwendung (Greifen-Szene) oder beschränkt sich auf eine angemessene Gewaltanwendung, wenn der Kampf nicht zu vermeiden ist (Schlachten gegen die Ein-Fuß-Menschen, die Riesen-Ohren-Menschen, die Riesen und erneut gegen die Kranichmenschen). Er verzichtet darauf, die Herrschaft über die Besiegten zu übernehmen, sondern unterstellt sie der Gefolgschaftstreue des Königs der Ein-Auge-Menschen, wodurch er seinen Hochmut gegen andere Kreaturen als Teil der göttlichen Schöpfung besiegt und sich selbst als treuer Vasall erweist. Herzog Ernst entwickelt sich vom idealen weltlichen Ritter von der Schuld der Maßlosigkeit über einsichtigem Schuldbewusstsein und demütiger Bußfertigkeit zum idealen christlichen Ritter, der sich durch Erkenntnisgewissen, Verhaltensänderung und Gottergebenheit auszeichnet. Graf Wetzel und der Pfalzgraf Heinrich hingegen zeigen keine Entwicklung in ihrem eindimensional festgelegten, in sich abgeschlossenen, aber ethisch gegensätzlichen Figurentypus: Graf Wetzel ist eine idealtypische Freund- und Helferfigur, während der Pfalzgraf Heinrich eine negativtypische Neid- und Intrigantenfigur darstellt. Der Kaiser Otto ist charakterlich und psychologisch als sehr einfache und flache Figur konzipiert. Er ist sehr großzügig, weitherzig und gutgläubig, aber es genügt eine plumpe und haarstäubende Verleumdung, um von ihm eine sture, unreflektierte und maßlos überzogene Gewaltanwendung zu erreichen, die umso problematischer ist, da er das höchste Herrschaftsamt bekleidet. Diese Figur lässt sich aber durch die Aufdeckung der Verleumdung ebenso schnell wieder besänftigen, ruhig stellen und innerlich ausgleichen, was aber ein zweifelhaftes Licht auf die Intelligenz und Selbstbeherrschung dieser Figur wirft.

    Ein komplexeres Analysemodell erweitert die drei Kategorien Veränderbarkeit, Vielseitigkeit und Verständlichkeit der Figurenkonzeption auf acht Dimensionen der Figurenwahrnehmung. Literarische Figuren können in mehreren Hinsichten im Rahmen von oppositionellen Parametern mit graduellen Abstufungen wahrgenommen werden: menschenähnlich-naturalistisch oder menschenunähnlich-stilisiert, einheitlich-identisch (kohärent-stabil) oder vielheitlich-gespalten (inkohärent-instabil), psychologisch und charakterologisch ganzheitlich oder fragmentarisch, eigentlich oder symbolisch (Personifikation, Allegorie, Typus, Repräsentant von Ideen), einfach oder aufgrund einer hohen Anzahl und spannungsgeladenen Konstellation von Merkmalen komplex bis widersprüchlich, aufgrund der Beschränkung auf die Darstellung der Außensicht opak oder durch die Introspektion transparent, unveränderlich (flach, statisch, nicht entwicklungsfähig) oder veränderlich (rund, dynamisch, entwicklungsfähig), geschlossen oder offen und ambig. Das Acht-Dimensionen-Modell der Figurenwahrnehmung versucht Textkategorien, Darstellungskategorien, Rezeptionskategorien und Bedeutungskategorien zu intergrieren.

    Die spezifische Konkretisierung eines Menschenbildes durch die Figurengestaltung oder Figurenkonzeption bewegt sich in der Literaturgeschichte zwischen Abstraktion und Individualisierung. Figuren in der literarhistorischen Figurenkonzeption können als Personifikationen oder Allegorien von religiösen oder moralischen Ideen konzipiert sein. In der mittelalterlichen, alt- und mittelhochdeutschen Literatur finden sich z. B. die figuralen Verkörperungen von Glaube (Parzival) und Zweifel (Feirefiz), von ritterlicher Weltlust (der arme Heinrich) und spiritueller Askese (Trevrizent), von Hochmut (Siegfried, Hagen, Gunther) und Buße (Gregorius), von Treue (Rüdiger) und Rache (Kriemhild) in den Erzähltexten. Der Typus ist hingegen komplexer konzipiert und hat einen größeren Merkmalsatz von Eigenschaften, betont jedoch ebenfalls das Überindividuelle und Allgemein-Repräsentative. Typenfiguren können soziologischen oder psychologischen lebensweltlichen Vorbildern entstammen, wie z. B. die Narrenfiguren aus dem „Narrenschiff von Sebastian Brant (der Büchernarr, der Streithahn, der Sexbesessene, der Prasser, der Habgierige, der Schwätzer, der Besorgte, der Spötter, der Jähzornige, u. a.), oder sich aus einem immanent literarischen Ursprung zu vorgeprägten Standardfiguren entwickeln, die variiert, transformiert oder demontiert werden können, wie z. B. der schelmische Till Eulenspiegel, der suchende Doktor Faust oder der grausame Don Juan. Viele Figurentypen finden sich in der frühneuhochdeutschen, frühbürgerlichen Schwank- und Narrenliteratur, in der antibäuerlichen Literatur, in den Volksbüchern, im Schelmenroman und im höfisch-heroischen Roman. Doch in der frühen Neuzeit, im Rationalismus des 17. Jahrhunderts, im materialistischen Empirismus und in der Empfindsamkeit oder im Sturm und Drang des 18. Jahrhunderts wurde die bis dahin gültige normativ-präskriptive Figurenkonzeption, die auf der aristotelischen-peripatetischen Ethik der goldenen Mitte und der Horaz-Poetik der Würde und Angemessenheit beruhte, immer mehr in Frage gestellt. Der Sturm und Drang ist die erste Jugendbewegung in der Literatur gegen die autoritären Wertvorstellungen der Vätergeneration, die sich im Expressionismus in der Auflehnung gegen den virulenten Wilhelminismus und in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Auflehnung der Studenten gegen den schleichenden Faschismus wiederholt. Zum Sprachrohr der rebellierenden Jugendlichen wird im Sturm und Drang der freiheitsliebende Kraftkerl, der gegen Gesetz und Ordnung revoltiert und zum Rebell, zum Verbrecher wird, wenn man ihm seine Ehre nimmt („Der Verbrecher aus verlorener Ehre, „Michael Kohlhaas). Der Weimarer Klassizismus stellte dem Kraftkerl, an dessen Schaffung sie selbst zum Teil mitgewirkt hatte, den halbtragischen Machtmenschen (Wallenstein, Faust) gegenüber. Schon im mittelhochdeutschen idealisierenden höfischen Ritterroman waren der adlige Ritter und die adlige Frau tugendhaft und schön zugleich, im besten Fall auch tief religiös. Diese Idee und der starke Einfluss des Pietismus und der Empfindsamkeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts inspirierte den Weimarer Klassizismus zur Konzeption eines Figurentypus, der durch die harmonische Ausgewogenheit der Affekte und der sittlichen Kräfte auch als ästhetisch schön empfunden und deshalb als schöne Seele bezeichnet wurde. Doch dieser Typus wurde auch kritisiert, da er sich den Zustand der Unschuld nur dadurch bewahren kann, dass er nichts in der Welt bewirkt, wodurch diese wirklichkeitslose schöne Seele in sehnsüchtiger Schwindsucht zerfließt. Dies deutet auf die verträumten Künstlerfiguren oder Lebenskünstler der Romantik voraus, die z. T. optimistisch, wandermutig und abenteuerlustig in die Zukunft blicken (Taugenichts), aber auch z. T. der Sehnsucht, der Depression oder dem Wahn verfallen (Eckbert, Nathaniel). Die absolute Kontrastfigur aller romantischen Künstlernaturen ist der bigotte, vertrocknete, moralinverseuchte Philister (Gottlieb Biedermaier). Die realistische und naturalistische Figurenkonzeption wird zunehmend individualisierend und hebt das Einmalige und Unverwechselbare einer komplexen Figur hervor („Der grüne Heinrich). Das Interesse des späten 19. Jahrhunderts an der Soziologie hat aber auch dazu geführt, die Figur als Produkt der evolutionären, historischen und gesellschaftlichen Bedingungen darzustellen: historische Zeit, Abstammung, Milieu, Erziehung, Lebensweise und Bildung („Bahnwärter Thiel"). Auch die Psychoanalyse trug dazu bei, epische Figuren als notwendige Produkte individualpsychologischer Voraussetzungen zu konzipieren und mit Hilfe psychologischer Erklärungsmuster zu interpretieren (die Figuren in Arthur Schnitzlers Erzählungen). Die klassische Moderne und vor allem der Expressionismus zeigen aber auch eine neue Tendenz zur Abstraktion in der Figurengestaltung (der Sohn, der Vater, der Irre). Menschliche Figuren werden z. B. in den Parabeln, Erzählungen und Romanen Franz Kafkas teilweise bis auf Chiffren reduziert, denen wenige spezifische charakterliche Eigenschaften zugeschrieben werden können (Gregor Samsa). Figurenkonzeptionen in der zeitgenössischen Literatur nehmen strukturalistische, semiotische, kommunikationstheoretische und rezipientenorientierte Denkansätze und Textbetrachtungen auf. Die Figur scheint von den Erzählern, Lesern und Analytikern als ein funktionales Strukturelement im komplexen Textgefüge oder als eine berechenbare Summe von relevanten oder bereits bekannten Zeichen innerhalb der globalen postmodernen Kulturcodes oder Unterhaltungsindustrien konzipiert, verstanden und interpretiert zu werden.

    1.4 Figurenfunktion

    Die Analyse der Funktionen der Figuren antwortet auf die Fragen: Welche Rolle, Aufgabe und Funktion üben die Figuren in Hinblick auf die Ebene der Darstellung und die Ebene des Dargestellten, auf die Informationssteuerung, Handlungsintegrierung, Leser-Figur-Identifikation, Perspektivierung und Bewusstseinsdarstellung, auf den konfliktbehafteten oder zielorientierten Handlungskern, auf die komplikative Verwicklung des Handlungsverlaufs und auf den peripetischen Fortschritt der Handlung in die Richtung einer Lösung des Konflikts auf?

    Die grundlegende Unterscheidung der Funktionen der Figur in Erzähltexten ist die Unterscheidung der erzählenden Funktion einer Figur und der handlungsorientierten Funktion einer Figur und somit die Unterscheidung zwischen Erzählfigur und Handlungsfigur. In der Regel sind in Erzähltexten eine Erzählfigur und mehrere Handlungsfiguren vorhanden. Die Erzählfigur kann mehr oder weniger als Figur wahrnehmbar und sichtbar sein. In einigen Erzähltexten sind sogar mehrere Erzählfiguren vorhanden, wobei Handlungsfiguren im Laufe des Erzähltextes auch als Erzählfiguren fungieren können. Aber die Funktion der Handlungsfigur ist selten eine erzählende, sondern eine handlungsorientierte. Die grundlegenden handlungsorientierten und strukturellen Funktionen der Handlungsfiguren heißen Aktanten. Zur Gegenüberstellung von Erzählfigur und Handlungsfigur oder Aktant tritt noch eine weitere, sehr wichtige Gattung von Figuren: die Filterfiguren. Die handlungsintegrative Funktion eines Protagonisten und die Filterung des Erzählerwissens oder der Informationen an den Leser sind wichtige Funktionen der Handlungsfiguren, wenn sie vom Erzähler als erzähltechnische Instrumente oder Mittel benutzt werden. Der Erzähler verwendet die Handlungsfiguren häufig als Filterfiguren, um die Informationsvergabe zu steuern, die Wahrnehmung des Erzählten durch die Figur zu färben und Fokalisierungseffekte beim Leser zu bewirken.

    Wie in der Dramenanalyse können in der Erzähltextanalyse die Handlungsfiguren nach ihrer Wichtigkeit im Handlungsverlauf, ihren quantitativen Anteilen an der Figurendarstellung oder der Figurenrede und ihrer Häufigkeit im Erzähldiskurs in Hauptfiguren oder Zentralfiguren, Nebenfiguren und Randfiguren unterteilt werden.

    Da naheliegender Weise vor allem die Hauptfiguren eine handlungsorientierte Funktion haben und damit im wörtlichen Sinn des Wortes Handlungsfiguren sind, werden von den Handlungsfiguren die Funktionsfiguren unterschieden, die in der Regel Nebenfiguren mit einer einzigen, spezifischen Funktion innerhalb der Handlung sind: z. B. Vertraute im Vertrautengespräch, Boten für den Botenbericht oder Diener, die eine Intrige spinnen und ausführen. Der Begriff Funktionsfigur scheint aber etwas unglücklich gewählt, da jede Figur im Erzähltext im weiten Sinn irgendeine Funktion besitzt.

    Eine typologische und besonders interessante Funktionsfigur in Erzähltexten ist der Informant, der den Protagonisten, wenn es sich um einen positiven Helden handelt, von außen und aus der Distanz durch die illegale Mitteilung von Geheimnissen und vertraulichen Informationen in dessen Kampf gegen seine korrupten Opponenten weiterhilft, ohne klar und offen Position zu beziehen, meistens, weil er sich dadurch einer Lebensgefahr aussetzen würde und nur durch seine Verborgenheit am Leben bleiben kann. Die tieferen Motive des Informanten, sich durch den Verrat von geheimen Informationen illoyal gegen seine eigene Körperschaft oder Unternehmung zu verhalten, werden nicht immer offen gelegt oder eindeutig verständlich, bewegen sich aber im Bereich zwischen ängstlicher Abhängigkeit von seiner Arbeit, einem diffusen Solidaritätsgefühl mit der stillen Mehrheit der Bevölkerung und dem Wunsch nach einem demokratieorientierten und menschenwürdigen Verhaltenskodex innerhalb seiner Institution, die er trotz ihrer Verbrechen grundsätzlich bejaht.

    Die augenscheinliche, wesentliche Funktion der Figuren in Erzähltexten ist die Handlung. Die verborgene, aber nicht weniger wichtige Funktion der Figuren in Erzähltexten als erzähltechnisches Instrumentarium zur Lenkung der Informationsvergabe durch verschiedene Fokalisierungstypen, zur Vermittlung des Erzählten durch die Wahrnehmung der Figur und zur Schaffung von Figurenperspektiven. Die Filterfiguren ermöglichen die Verengung in der Vergabe der narrativen Informationen durch den Erzähler, die Integration der wechselhaften Handlung mittels der meist stabilen Figurenidentität durch den Leser, die Identifikation des Lesers mit den Handlungen, Gefühlen und Wertvorstellungen des Protagonisten und die Wahrnehmung der erzählten Welt aus der Perspektive der Figur. Figuren, die im Zentrum der Geschichte oder Handlung stehen und eine zentrale Verknüpfung mit allen Neben- und Randfiguren herstellen, sind die Integrationsfiguren. Integrationsfiguren sind der gemeinsame Nenner oder das verbindende Element der Figuren in einem Erzähltext (Figurenkonstellation). Der Zweck und die Bedeutung einiger Neben- und Randfiguren liegen in ihrer Beziehung zur Integrationsfigur. Die Integrationsfiguren bedingen die handlungsorientierte Funktion und die systemische Wertigkeit der Neben- und Randfiguren. Dominante Handlungsfiguren fungieren für den Leser häufig als Identifikationsfiguren, vor allem beim neutralen Erzählverhalten, der dramatischen (nahperspektivischen) Erzählweise und der konsonant-synthetischen Darstellung des Figurenbewusstseins über die innere Figurenrede hinaus. Spiegelt der Erzähler in der narrativen Er-Form die subjektive Art und Weise, wie die Figur die erzählte Welt innerlich erlebt, psychisch bewusst oder unbewusst wahrnimmt, ohne dem Leser explizit mitzuteilen, aber implizit erkennen zu geben, dass es sich nicht um den objektiven, wahrheitsgetreuen Bericht des Erzählers, sondern um eine eingeschränkte, verzerrte Wahrnehmung des Erzählten durch die Figur handelt, spricht man von Perspektivfiguren. Figuren, die einen langen äußeren oder inneren Monolog sprechen oder deren Bewusstseinsstrom (meist) kommentarlos und undistanziert wiedergegeben wird, heißen Reflektorfiguren, da der Erzähler (hauptsächlich) ihre innere Rede zitiert und damit spiegelt. Integrations-, Reflektor- und Perspektivfiguren sind tendenziell ebenso Identifikationsfiguren wie dominante Handlungsfiguren. Perspektivfiguren können auch als verborgene Reflektorfiguren, deren Bewusstsein in der Er-Form erzählt wird, und Reflektorfiguren als offene, in der Ich-Form ihr Bewusstsein spiegelnde Perspektivfiguren betrachtet werden.

    Die Identifikation des Lesers mit einer Figur ist ein vielschichtiges Phänomen, das vor allem durch drei Vorgänge auf unterschiedlichen Ebenen konstituiert wird: durch den Perspektiventransfer von der Figur auf den Leser in psychologisch-empirischer Hinsicht, durch die affektive Bindung des Lesers an die Figur in relational-emotionaler Hinsicht und durch die Bewertung der Figur durch den Leser in normativ-ethischer Hinsicht. Der Perspektiventransfer oder die Übernahme der Figurenperspektive durch den Leser kann auf drei Arten erfolgen: erstens durch die Übernahme der sinnlichen Wahrnehmung oder Perzeption der Figur durch den Leser im Rahmen der Ich-Referenz in der quasi-autobiographischen Ich-Erzählsituation und des inneren Monologs oder Bewusstseinsstroms in der reflektoralen Ich-Erzählsituation (Perspektivismus) oder der erlebten Rede und der erlebten Wahrnehmung in der personalen Erzählsituation (Perspektivierung), zweitens durch die Akzeptanz einer psychologisch glaubwürdigen Handlungsmotivation der Figur durch den Leser und drittens durch die Erkenntnis der Innenwelt einer Figur seitens des Lesers im Rahmen der introspektiven konsonant-synthetischen Darstellung des Figurenbewusstseins (interne Fokalisierung, Fokussierung). Die affektive Bindung des Lesers an die Figur kann auf drei Arten aufgebaut werden: erstens durch die Einordnung situativ angemessener Emotionen und Gefühle der Figur in universelle, historische oder kulturelle Handlungsschemata des Lesers (Trennung-Schmerz, Verbindung-Freude, Tod-Trauer), zweitens durch die Bereitschaft oder Fähigkeit des Lesers zur reaktiv-kognitiven oder parallel-emotionalen Empathie des Lesers mit den Gedanken und Emotionen einer (fiktiven) Figur oder zur metonymischen bis metaphorischen Verbindung von nicht figurenbezogenen Ereignissen mit den Persönlichkeitsmerkmalen und Gefühlen einer Figur (Sturm-Verzweiflung, Sommer-Glück) und drittens durch die Neigung des Lesers, sich von phonetisch-metrischen, syntaktisch-rhythmischen, lexikalisch-expressiven und bildlich-rhetorischen Stilmitteln in emotive Zustände versetzen zu lassen. Die Bewertung der Figur durch den Leser beruht auf historisch-kulturell bedingten und veränderbaren Wertmaßstäben und erfolgt entweder durch explizite evaluative Äußerungen im Erzähltext oder implizite Bewertung des Figurenverhaltens und der Figurenhandlungen im Wesentlichen in drei unterschiedliche Richtungen, die eine graduelle Abstufung der Identifikation beinhalten: die Bewunderung der Figur durch den Leser, die Sympathie des Lesers mit der Figur und die Abneigung des Lesers gegen eine Figur, die eine unbewusste Teilidentifikation, z. B. nur in Bezug auf eine verdrängte negative Charaktereigenschaft des Leser, beinhalten kann.

    Figuren sind im engeren Sinn durch Sprache erzeugte Textkonstrukte und somit oftmals Träger einer textuellen Funktion in der Handlung. Vor allem die Hauptfiguren haben eine spezielle Funktion für den Fortschritt des Handlungsverlaufs in Erzähltexten mit dezidierten handlungsorientierten Plots (Krimi) oder dominanten Organisationsstrukturen der Handlung (Heldenfahrt) und Handlungsschemen (Sieg oder Niederlage des Helden). Figuren selbst werden generell Akteure genannt, während Figuren, insofern sie eine spezielle handlungsgenerierende und handlungstreibende Funktion im Erzähltext innehaben, Aktanten genannt werden. Das Aktanten-Modell beruht auf dem Archetypen-Modell, das eine Reihe von Aufgaben oder Rollen von Figuren in Geschichten anführt: der Held (Protagonist, Opfer, Suchender), der Gegenspieler (Antagonist, Widersacher, der Böse), der Schatten, der Vertraute/Verbündete, der Berater (Mentor, Weise, Warner), der Schenker/Ausstatter, der (magische) Helfer, die Geliebte/Prinzessin, der Vater der Geliebten/Prinzessin (Prüfender), der falsche Held (Antiheld, Usurpator, Trickser), der Bote/Herold, der Wächter der Schwelle (Grenzposten), der Sender (Auftraggeber, Überreder), der Gaukler/Trickser, der Gestaltwandler (die Maske) und weitere Rollen wie im Märchen (die gute Mutter, die böse Stiefmutter, der Wolf, der Jäger) und in genretypischen Erzählschemen (der korrupte Polizist, die loyale Prostituierte, der raue, aber gerechte Vorgesetzte). Die strukturalistische Analyse im Aktanten-Modell synthetisiert die Rollen der Figuren zu drei binär-oppositionellen Aktantenpaaren: Subjekt und Objekt, Adressat und Adressant, Adjutant und Opponent. Wenn die Analyse einfachheitshalber auf eine Geschichte oder einen einzelnen Handlungsstrang beschränkt wird, so übernimmt in der Regel die Hauptfigur als Protagonist oder Held der epischen Handlung die Funktion des Subjekts. Das epische Subjekt hat die Funktion zu handeln oder die narrative Handlung in Gang zu setzen, in Gang zu halten und in der einen oder anderen Form zu beenden. Das Subjekt ist die handlungsorientierte Kraft der Geschichte, indem es in der Regel das Objekt begehrt. Der Protagonist als Subjekt eines Erzähltextes muss nicht ein positiver Held sein; auch eine Schurkenfigur kann das Subjekt (Protagonist, Hauptfigur oder Titelfigur) eines Erzähltextes sein. Häufig ist der Protagonist aber ein Held mit positiven Merkmalen. Textintern hat der Protagonist oder Held meist eine

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