Figura. Ästhetik, Geschichte, Literatur
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Seit der Renaissance wird grazia (Anmut, Schönheit, Grazie) im kunsttheoretischen Diskurs zu einem zentralen ästhetischen Wertbegriff, nicht jedoch zu einer analytischen, konkreten Beschreibungskategorie. Grazia verweist vielmehr auf das, was sich aufgrund seiner künstlerischen Absolutheit jeder begrifflichen Definition entzieht, jedoch als ästhetische Dimension präsent, erkennbar und in seiner Fülle erfahrbar ist. Sie bezeichnet damit eine paradoxe Figur: eine deutliche Undeutlichkeit, eine Prägnanz der Verheißung, eine ästhetische Evidenz, die die Unfasslichkeit dessen, was in der Kunst offensichtlich ist, immer schon in sich birgt. Sie begegnet uns bei Fra Angelico, Raffael und Tizian, bei Guido Reni, Bernini und vielen anderen Künstlern der frühen Neuzeit. Immer neu tritt dabei der Zusammenhang zutage, der zwischen der ästhetischen Erfahrung irdischer Schönheit im Erlebnis der Kunst (grazia) und einem anderen, hierzu vorgängigen Modell besteht, dem der religiösen Verheißung himmlischer Gnade und Glückserfüllung (gratia). Nicht zuletzt ist dies eine Konstellation, die eine unabsehbare Geltung bis in die ästhetischen Theoriebildungen der Moderne und Gegenwart hinein besitzt.
Titles in the series (4)
- Gespräche über Freundschaft: Die Konstitution persönlicher Nahbeziehungen bei Platon, Cicero und Aelred von Rievaulx
2
Wie man einen Freund gewinnt und wie man die Freundschaft erhält - Themen der Philosophie seit der Antike. Seit der antiken Philosophie ist immer wieder über Freundschaft nachgedacht worden. Wie findet man einen Freund, wie kann man einem anderen als freundschaftswürdig erscheinen, wie erringt und wie erhält man die Freundschaft? Die drei berühmten Freundschaftsgespräche, Platons "Lysis", Ciceros "Laelius de amicitia" und Aelreds von Rievaulx "De spiritali amicitia", behandeln diese Fragen zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten, aber sie alle machen Freundschaft zu einem philosophischen Gegenstand, der über alltägliche Fragen weit hinausgeht und nach dem Kern der menschlichen Identität sucht. Und sie behandeln sie im Dialog – dem zentralen Medium von Freundschaft. Die Reihe "Figura" versammelt impulsgebende Beiträge von ausgewiesenen Kennern der Vormoderne. Konzentriert auf raum-zeitlich dichte Konfigurationen verbindet sie Ästhetik, Geschichte und Literatur.
- Verhandlungen in Utrecht: Ter Brugghen und die religiöse Bildsprache in den Niederlanden
3
Bild und Kontext: Über Aushandlungsprozesse religiöser Darstellungsweisen. Anders als es die Ausbildungsregeln niederländischer Künstler vorsahen, beschäftigte sich der Utrechter Maler Hendrick ter Brugghen (1588-1629) auf seiner Reise nach Rom nicht mit der Antike oder der Hochrenaissance, sondern mit der damals zeitgenössischen Malerei, vor allem derjenigen Caravaggios, die in Rom um 1600 breit und kontrovers diskutiert wurde. Die Frage nach den Gründen für seine so expliziten Rekurse auf Caravaggios unkonventionelle und ihr Publikum oft frappierende Gemälde nach seiner Rückkehr in die Niederlande steht im Zentrum der Studie. Sie gewinnt an Brisanz, da ter Brugghen dort für ein konfessionell überaus heterogenes Publikum arbeitete. Wer also interessierte sich in Utrecht, Deventer und Diest für eine gegen normierte Darstellungsweisen des Religiösen verstoßende Bildsprache, worauf zielte ter Brugghen mit ihr?
- Versilberte Verhältnisse: Der Denar in seiner ersten Epoche (700-1000)
4
Ludolf Kuchenbuch erforscht multiperspektivisch Komponenten und Wirkungen des »Münzlebens". Die Geldhistorie des früheren Mittelalters ist traditionell in die Wirtschaftshistorie, Münzkunde und Archäologie aufgeteilt, was auf die Zersplitterung und Desintegration des enormen verfügbaren Wissens hinausläuft. Multidisziplinäre Forschungen über materielle Hinterlassenschaften (Münzschätze und Bodenfunde) bleiben meist für sich. Aber auch ein marktorientiertes, ökonomisches Interesse, das auf die Funktion der Münzen als neutrales Tauschmittel beschränkt bleibt, isoliert sich. Zweierlei Aspekte fehlen für eine integrierende Sichtweise: zum einen die Geldbezüge beim denkenden und wertenden Umgang mit Dingen und im sozialen Getriebe, zum anderen die ungleichen Effekte für die am Geldgebrauch beteiligten sozialen Gruppen. In einer Serie von Fallinterpretationen exemplarischer Einzelzeugnisse zeigt und erörtert Ludolf Kuchenbuch den Gebrauch der Münzen als Gedanke, Ding und Tat; beide Wege machen eine Totale möglich, ein Panorama und Porträt des Silber-Denars als soziales Wesen in seiner ersten - expansiven und zentralisierten - Epoche, die den Zeitraum von 700 bis 1000 n. Chr. umspannt.
- Grazia: Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz
5
Kunst wird seit der Renaissance zum Modell einer elementaren, quasireligiösen Paradoxie, nämlich der ästhetischen Evidenz des Unbegreiflichen. Seit der Renaissance wird grazia (Anmut, Schönheit, Grazie) im kunsttheoretischen Diskurs zu einem zentralen ästhetischen Wertbegriff, nicht jedoch zu einer analytischen, konkreten Beschreibungskategorie. Grazia verweist vielmehr auf das, was sich aufgrund seiner künstlerischen Absolutheit jeder begrifflichen Definition entzieht, jedoch als ästhetische Dimension präsent, erkennbar und in seiner Fülle erfahrbar ist. Sie bezeichnet damit eine paradoxe Figur: eine deutliche Undeutlichkeit, eine Prägnanz der Verheißung, eine ästhetische Evidenz, die die Unfasslichkeit dessen, was in der Kunst offensichtlich ist, immer schon in sich birgt. Sie begegnet uns bei Fra Angelico, Raffael und Tizian, bei Guido Reni, Bernini und vielen anderen Künstlern der frühen Neuzeit. Immer neu tritt dabei der Zusammenhang zutage, der zwischen der ästhetischen Erfahrung irdischer Schönheit im Erlebnis der Kunst (grazia) und einem anderen, hierzu vorgängigen Modell besteht, dem der religiösen Verheißung himmlischer Gnade und Glückserfüllung (gratia). Nicht zuletzt ist dies eine Konstellation, die eine unabsehbare Geltung bis in die ästhetischen Theoriebildungen der Moderne und Gegenwart hinein besitzt.
Klaus Krüger
Klaus Krüger ist Professor für Kunstgeschichte an der FU Berlin. Fellowships und Gastprofessuren u. a. in Paris, New York, Konstanz, Wien und Rom. Veröffentlichungen u. a.: Figura als Bild. Streiflichter zu Dürer und zum Mediendiskurs in Mittelalter und früher Neuzeit (2023); Giottos Figuren. Mimesis und Imagination (2023); Bildpräsenz - Heilspräsenz. Ästhetik der Liminalität (2018); Zur Eigensinnlichkeit der Bilder (2017); Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz (2016); Politik der Evidenz. Öffentliche Bilder als Bilder der Öffentlichkeit im Trecento (2015); Das Bild als Schleier des Unsichtbaren. Ästhetische Illusion in der Kunst der frühen Neuzeit in Italien (2001).
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