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Tod im Heu: Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als die Schwarzwaldklinik über deutsche Bildschirme flimmerte
Tod im Heu: Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als die Schwarzwaldklinik über deutsche Bildschirme flimmerte
Tod im Heu: Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als die Schwarzwaldklinik über deutsche Bildschirme flimmerte
Ebook732 pages9 hours

Tod im Heu: Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als die Schwarzwaldklinik über deutsche Bildschirme flimmerte

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About this ebook

Allein der Gedanke, dass in einem der natürlichsten Lebensmittel nicht identifizierte Inhaltsstoffe gefunden werden, gibt Anlass zur Sorge.
Befasst man sich länger damit, werden wahre Horrorszenarien denkbar. So ergeht es dem Ermittler Tobias Blank, als er im Auftrag der Allgäuer Milchwerke beginnt, nach den Ursachen von Verunreinigungen in Milchprodukten zu suchen.
Von Schlamperei über Sabotage bis hin zu einer vorsätzlichen Vergiftung scheint alles möglich zu sein.
Wie so oft liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateNov 3, 2015
ISBN9783732369355
Tod im Heu: Eine Detektivgeschichte aus der Zeit, als die Schwarzwaldklinik über deutsche Bildschirme flimmerte

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    Tod im Heu - Hans-Joachim Haake

    Nach einer Irrfahrt durch die von Viehzucht geprägte Landschaft, vorbei an ungezählten Weiden und lichten Wäldchen, hatte Blank seinen Zielort im Allgäu erreicht. Auf der Holztafel neben dem Ortseingangsschild stand:

    Grüß Gott in

    Mittelsoin

    Von Autobahnen war dieser Winkel Deutschlands noch weitgehend ausgespart. Dafür gab es einige gut ausgebaute Bundesstraßen. Doch auch diese führten an Mittelsoin vorbei.

    Kaum vorstellbar, dass jemand freiwillig hierher kommen sollte, dachte Blank und er wunderte sich schon ein wenig über das Begrüßungsschild.

    Blank war mit einem Leihwagen unterwegs. Aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass in ländlichen Regionen regelmäßig verkehrende, öffentliche Verkehrsmittel nur sporadisch verkehrten.

    Wie gut der Ermittler daran getan hatte, bestätigte sich, als er am Ende der Durchgangsstraße ankam. In der Ortschaft gab es weder eine Bushaltestelle noch einen Bahnhof. Wer hier wohnte, war zwangsläufig auf ein Fahrzeug angewiesen oder musste laufen. Nur wohin sollte man hier schon gehen.

    Abgesehen von der hügeligen Landschaft, erinnerte die Gegend an Landstriche in Niedersachsen. In Blanks norddeutscher Heimat gab es ebensolche einsam gelegene Ortschaften, weitab von Gut und Böse.

    Es gab aber einen Unterschied. Im Norden der Republik grasten eher schwarzbunte Milchproduzenten auf den Wiesen, während hier fast ausschließlich hellbraune Rindviecher wiederkäuten.

    Eigentlich interessierte Blank die Farbgebung bei Kühen eher weniger gäbe es nicht einen unmittelbaren Zusammenhang mit seinem Auftrag.

    Ob Mittelsoin als Ausgangspunkt der Recherchen geeignet war, musste sich erst noch herausstellen. Blank wendete seinen Wagen und fuhr in entgegengesetzter Richtung nochmals durch das ruhige Dorf. Dabei achtete er mehr auf die Nebenstraßen. So entdeckte Blank nicht nur einen Lebensmittelladen, sondern auch einen Bäcker und eine Metzgerei. Zu seiner Freude gleich neben einem Gasthof.

    Vor dem Eingang standen zwei Pkws. Den Nummernschildern nach offenkundig aus dem Rheinland. Dass es Leute in diese Einsamkeit verschlagen hatte, erstaunte Blank doch ein wenig.

    Er stellte seinen Wagen ab und ging die drei Stufen hinauf zur Eingangstür des Gasthofs. Wie bereits an der Fassade erkennbar war, war auch bei der Inneneinrichtung nicht an Holz gespart worden. Dass dieses Baumaterial in dieser Region sehr beliebt war, lag vermutlich auch daran, weil dieser nachwachsende Werkstoff im Überfluss vorhanden war.

    Hinter dem Schanktresen stand eine junge Frau. Ihr dunkles, langes Haar fiel auf eine offenherzig dekolletierte weiße Bluse. Sie blickte den Ankömmling freundlich lächelnd an.

    Blank schaute sich in dem Gastraum um. An zwei Tischen saßen Gäste beim Mittagessen. Neben dem Tresen stand ein wuchtiger Holztisch. Der mitten darauf platzierte geschnitzte Holzbogen bezeichnete diesen als „Stammtisch".

    Einige ältere Männer saßen dort zusammen. Vor ihnen standen überdimensionale Steingutkrüge, in denen sich zweifelsohne das bayrische Nationalgetränk befand. Die Stammtischler unterhielten sich, ohne auf den neuen Gast zu achten.

    Blank setzte sich an einen freien Tisch, gleich neben der Eingangstür und lauschte dem Gespräch der Einheimischen. Obwohl die Männer nicht gerade leise sprachen, verstand Blank fast kein Wort. Er hätte genauso gut in einem Gasthaus in Peking sitzen können, so fremdartig klangen die Äußerungen, welche Blank zwangsläufig mit anhören musste. Wahrscheinlich machten sich die Dörfler auch deswegen keine Gedanken darüber, dass man ihrem Gespräch zuhören konnte.

    Die bayrische Mundart war ihm nicht gänzlich fremd, allerdings hatte Blank bisher nur mit Leuten aus der Großstadt München gesprochen. Die Allgäuer hatten ganz offenkundig ihre eigene Sprache und Blank kam es so vor, dass sie auf einen Teil des deutschen Alphabets verzichteten.

    Die Kellnerin trat mit einer Speisekarte in der Hand, hinter dem Tresen hervor. Sie trug einen dunklen Rock, mit einer geblümten Schürze darüber und kam an Blanks Tisch.

    „Grüß Gott! Was möchten Sie trinken?", begrüßte sie den Gast.

    Blank war von dem Anblick der feschen Person etwas abgelenkt und angenehm überrascht, dass die Frau in einem verständlichen Hochdeutsch sprach.

    „Ripple mit Kraut und hausgemachte Semmelknödel, kann ich heute empfehlen", fügte die Bedienung hinzu, bevor Blank antworten konnte.

    Blank lächelte liebenswürdig und nahm die Empfehlung an. Dazu bestellte er ein Weißbier, was die Schwarzhaarige ihrerseits mit einem freundlichen Lächeln quittierte.

    Die einheimischen Jungs müssten sich doch die Klinke in die Hand geben und dieses Allgäuer Mädel umschwärmen, dachte Blank. Oder bestand der männliche Bevölkerungsteil in diesem Ort nur aus älteren, Bierkrug stemmenden Stammtischbesetzern?

    Wie dem auch sei, Blank empfand zunehmend gefallen daran, den Ort für seinen mehrtägigen Aufenthalt in Betracht zu ziehen. Blieb eigentlich nur noch die Frage zu klären, ob es hier eine Übernachtungsmöglichkeit geben würde.

    Auf diesen Punkt kam Blank auch gleich zu sprechen, als sein Bier serviert wurde. Die freundliche Dorfschönheit bejahte Blanks Anfrage und versprach, der Chefin Bescheid zu geben.

    Nach dem dieses Problem gelöst schien, konnte Blank dem nächsten Tag beruhigt entgegen blicken. Die Firma, die er morgen besuchen wollte, musste in der unmittelbaren Umgebung sein. Es handelte sich um einen Betrieb der Allgäuer Milchverwertungsgesellschaft. Das Unternehmen, mit dem Hauptsitz in Kempten, unterhielt mehrere Molkereien im Allgäu.

    Der Auftrag, den Blanks Geschäftspartner angenommen hatte, war ein wenig ungewöhnlich für die Detektei MIKOS.

    Für Blank bedeutete dieser Einsatz eine grundlegende Umstellung seiner gewohnten Arbeitsweise. Deshalb hatte er sich nur widerstrebend darauf eingelassen. Was sein Freund Miko nach dem Gespräch mit dem Geschäftsführer des Unternehmens jedoch berichtet hatte, hörte sich so abenteuerlich an, dass Blanks Neugier geweckt worden war.

    Bei der betriebsinternen Qualitätskontrolle der Milchverwertungsgesellschaft waren in einigen Molkereiprodukten ungewöhnliche Inhaltsstoffe festgestellt worden. Es waren nur kaum messbare Spurenelemente gefunden worden, welche an sich noch keinen Anlass zur Besorgnis gaben. Aber man hatte festgestellt, dass diese Fremdstoffe in immer höheren Konzentrationen auftraten. Trotz hochmoderner labortechnischer Analysen tappten die Prüfer bei der Bestimmung dieser Fremdstoffe noch im Dunkeln. Was jedoch noch besorgniserregender erschien: Es gab keinerlei Verdachtsmomente, woher diese Substanzen kamen.

    Eines stand für den Geschäftsführer, Herrn Mayr, fest. Diese unerklärlichen Verunreinigungen, so gering sie auch waren, hatten in den guten Allgäuer Milchprodukten nichts zu suchen.

    Da die Angelegenheit nicht bekannt werden durfte und Verunsicherungen bei den Verbrauchern entfacht wurden, hatte die Geschäftsleitung einen ungewöhnlichen Weg beschritten. Eine Untersuchung der Arbeitsabläufe sollte mögliche Fehlerquellen aufspüren.

    Dass ein norddeutsches Detektivbüro damit beauftragt wurde, lag wohl an dem guten Ruf, den die Detektei in der Geschäftswelt genoss. Der sich offenkundig bis nach Bayern herumgesprochen hatte. Es war allerdings auch denkbar, dass man den eigenen Landsleuten nicht traute.

    Wie auch immer.

    Blank sollte im Auftrag der Geschäftsführung als Betriebsinspektor die Molkereien besuchen, um die Arbeitsabläufe und das Personal zu überprüfen. Offiziell sollte diese Kontrolle im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Berechnung erfolgen. Ob diese Begründung bei dem Personal glaubhaft ankommen würde, musste sich erst noch herausstellen. Auf jeden Fall war Blank mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden, die auch den Einblick in die Personalunterlagen vorsahen.

    Dass ein Zugereister aus dem Norden im Betrieb als Störenfried angesehen werden könnte, war Blank durchaus bewusst.

    Es schien beinahe so, dass die Firmenleitung ganz gezielt versuchte, die Mitarbeiter zu verunsichern.

    Wie Blank die Sache angehen sollte, hing deshalb im Wesentlichen davon ab, wie man ihm begegnen würde. Er hoffte darauf, dass sein freundliches, offenes Auftreten auch hier in Bayern Erfolg haben würde. Im Grunde genommen war Blank sogar auf das Wohlwollen der Angestellten angewiesen. Seine Kenntnisse, wie in einer Molkerei gearbeitet wurde, tendierten gegen null. Deshalb hatte Blank für seinen ersten Kontrollbesuch auch eine ganze Woche veranschlagt, um sich ausführlich und in aller Ruhe mit den Arbeitsmethoden vertraut zu machen.

    Der besondere Reiz an diesem Auftrag lag darin, das Blank diesmal ganz offiziell auftreten konnte. Seine Vorliebe für verdeckte Ermittlungen musste notgedrungen in den Hintergrund treten. Darüber hinaus konnte sich Blank etwas erholen. Nicht etwa, weil er körperliche Arbeit scheute. Bei einem der letzten Aufträge hatte er immerhin vier Wochen als einfacher Lagerarbeiter zugebracht.

    In diesem Fall war kein körperlicher Einsatz gefragt, sondern mehr sein detektivischer Spürsinn gefordert.

    Was Blank sonst noch durch den Kopf ging, musste erst mal warten, denn sein Essen wurde serviert.

    „Einen gesegneten Appetit, wünsche ich Ihnen", sagte die liebenswürdige Bedienung.

    Was durchaus wörtlich zu nehmen war, denn die üppige Portion duftete verlockend. Während Blank mit dem beinahe kinderkopfgroßen Semmelknödel kämpfte, wurde es unruhig in der Gaststube.

    Am Stammtisch bezahlten die Männer der Reihe nach ihre Zeche. Welche Bemerkungen die Alten der Bedienung zuraunten, konnte Blank nur erahnen, es musste etwas Lustiges sein, denn alle stimmten in ein lautes Gelächter ein. Danach verließen die Männer gemeinsam den Raum. Auch die anderen Gäste hatten längst ihre Mahlzeit beendet, leerten ihre Gläser und verabschiedeten sich.

    Blank schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach 14.00 Uhr.

    Unversehens war er allein.

    Die Schwarzhaarige räumte die Tische ab und verschwand durch eine schmale Tür hinter dem Tresen. Diese Gelegenheit nutzte Blank. Er nahm den Kotelettknochen in beide Hände und nagte die Fleischreste genüsslich ab. Das hatte er schon immer gerne getan. Nur war diese animalische Art des Essens in Gesellschaft eher unschicklich und es war Blank selten vergönnt, diesem Verlangen nachzugeben.

    Voll auf zufrieden und gesättigt spülte Blank die letzten Reste seiner Speise mit einem großen Schluck Weißbier herunter. Gerade rechtzeitig, denn durch eine weitere Tür neben dem Stammtisch, kam eine schmächtige, grauhaarige Frau ins Lokal. Sie hatte die Haare streng nach hinten zu einem Dutt gebunden und die Frisur verlieh ihr ein energisches und ernstes Aussehen. Es kam Blank fast so vor, als ob sie nicht erfreut über seine Anwesenheit sei. Doch als sich die Frau seinem Tisch näherte und ihre Hände in der umgebundenen Schürze abgewischt hatte, änderten sich ihre Gesichtszüge abrupt.

    Mit einem charmanten Lächeln sagte sie: „Grüß Gott, der Herr. Sie suchen ein Zimmer."

    „Ganz genau", bestätigte Blank und war erleichtert, dass ihn die Wirtin in verständlichem Umgangston angesprochen hatte.

    „Ich würde gerne für eine Woche Ihre Gastfreundschaft in Anspruch nehmen", ergänzte Blank.

    „Kein Problem. Ich habe sehr schöne Gästezimmer. Wenn Sie mich begleiten möchten, dann zeige ich Ihnen die Räumlichkeiten."

    Blank stand auf und folgte der Frau durch eine seitliche Tür neben dem Tresen.

    Sie betraten einen geräumigen Hausflur. Eine Treppe führte in den Kellerbereich, wo sich auch die Gästetoiletten befanden, wie ein entsprechendes Hinweisschild verriet. Gleich gegenüber konnte Blank einen Blick in die Küche werfen, da die Tür offen stand. Ein rothaariger Mann mit Kochmütze hantierte dort hinter dem Herd.

    Die Wirtin führte Blank die Treppe hinauf.

    „Neben der Speisewirtschaft gehört auch eine Metzgerei zu meinem Haus, bemerkte die Wirtin und stellte fest: „Unsere gute Küche haben Sie ja bereits kennengelernt. Hier oben können Sie zwischen drei Zimmern wählen. Um diese Jahreszeit haben wir nur selten Übernachtungsgäste.

    Kaum zu glauben, dass überhaupt Fremde hierher kamen.

    Aber, warum eigentlich nicht, dachte Blank. Wer die Einsamkeit mochte, würde auf seine Kosten kommen und die Räumlichkeiten boten in der Tat alles, was ein müder Wanderer erwarten konnte. Alle Zimmer hatten einen separaten Wohn- und Schlafbereich sowie Dusche und Toilette.

    Da die Einrichtung keine erkennbaren Unterschiede aufwies, wählte Blank das Zimmer gegenüber der Treppe aus. Die Fenster zeigten zur Straße hin, aber da es kaum Verkehr gab, sollte das für die Nachtruhe kein Problem darstellen, dachte Blank.

    Auch die Wirtin war zufrieden. Sie übergab den Schlüssel und machte den Gast noch darauf aufmerksam, dass die Zimmer auch durch eine Hintertür im unteren Hausflur zu erreichen waren. Die Hausgäste brauchten daher nicht unbedingt durch die Gastube zu gehen. Ein Umstand, der Blank sehr gelegen kam und den er auch sofort nutzte, um seinen Wagen umzuparken und das Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

    Nachdem die Sachen verstaut waren, verließ Blank das Haus. Er wollte sich die Beine vertreten und im Dorf umzuschauen.

    Bis zur Straße, die an dem Gasthof vorbei führte, waren es nur ein paar Schritte. Hier musste Blank entscheiden, welche Richtung er einschlagen sollte.

    Im Prinzip war es egal, da es außer den typischen Bauernhöfen nichts gab, was sein besonderes Interesse weckte. Spontan entschied er, nach links zu gehen.

    Nach Bürgersteigen suchte Blank vergebens.

    Fußgänger mussten die Dorfstraße benutzen.

    Wobei jedoch Vorsicht geboten war.

    Nicht etwa wegen des Verkehrs, sondern vielmehr wegen der teilweise noch feuchten Tretminen, in Form von grünbraunen Kuhfladen, die verteilt auf der Straße lagen. Immer ein Auge auf der Straße schlenderte Blank gemächlich weiter. Bis auf einen Traktorfahrer, der langsam an ihm vorbei tuckerte, begegnete Blank niemandem.

    Es war Sonntagnachmittag. Die Dorfbewohner saßen vermutlich bei Kaffee und Kuchen in ihren Wohnzimmern zusammen, bevor die tägliche Stallarbeit sie wieder einholte. So in etwa stellte sich Blank das Landleben jedenfalls vor. Außer dem Traktor, störte nur noch das vereinzelt zu hörende blöken der Kühe die himmlische Ruhe.

    Nach etwa sechshundert Metern stand Blank bereits am Ende des Ortes, in dem er vor zwei Stunden gestrandet war. Laut dem Schild an der rechten Seite der Landstraße hieß die nächste Ortschaft:

    UNTERSOIN 1,5 km

    Soweit wollte Blank allerdings nicht gehen, daher blickte er nur die von Alleebäumen gesäumte Straße entlang.

    In der Ferne erkannte Blank ein gerade noch lesbares Hinweisschild:

    Allgäuer Milchverwertung

    Sein morgiger Anlaufpunkt war demnach gleich in der Nähe, stellte Blank beruhigt fest und er wandte sich um.

    Am Gasthaus vorbei marschierte Blank dem anderen Ortsausgang entgegen. Hinter einer Scheune bemerkte er eine Nebenstraße. Sie führte auf einen Platz. Der war umgeben von älteren, weiß gekalkten Häusern mit niedrigen, grün lackierten Sprossenfenstern. Ein blumengesäumter Pfad zwischen zwei Häuschen entpuppte sich als Zugang zur Dorfkirche, mit einem für diese Region typischen Zwiebelturm.

    Die Mitte des Dorfplatzes zierte ein Brunnen. Eine Holzbank stand daneben und lud zum Verweilen ein. Doch Blank war nicht danach zumute. Er drehte sich einmal im Kreis und erblickte an einem Haus eine Tafel mit der Aufschrift: Gemeindeverwaltung

    Er ließ den verschlafenen Dorfmittelpunkt hinter sich und ging zur Hauptstraße zurück. Sinnigerweise trug das erste Straßennamensschild, welches Blank bisher entdecken konnte, genau diese Bezeichnung.

    Sein weiterer Weg führte an Einfamilienhäusern vorbei. Eines beherbergte ein Ladengeschäft und war unverkennbar die örtliche Bäckerei. Kurz dahinter war schon der Dorfrand erreicht. Auch hier stand ein Schild mit dem Namen des Nachbarortes:

    OBERSOIN

    Bei der Namensgebung ihrer Ortschaften hatten die Einwohner nicht gerade Kreativität bewiesen, dachte Blank, aber genau waren sie schon, musste er ihnen zubilligen. Als Entfernung waren exakt 2,1 km angegeben.

    Die weiterführende, schnurgerade Landstraße war auch hier von Bäumen gesäumt. Blank schaute nur kurz in die Richtung, da die bereits tief stehende Sonne blendete. Er stellte aber fest, dass die Straße stetig bergauf führte. Am Horizont war ein Hügelkamm mit dichtem Baumbewuchs zu erkennen.

    Gerade als Blank sich umwandte, meinte er, im Augenwinkel eine Bewegung auf der Straße gesehen zu haben. Vermutlich nur eine Sinnestäuschung, verursacht durch die Schattenspiele der Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen, dachte Blank und er wollte den Rückweg zum Gasthaus beginnen.

    Sein untrügliches Gefühl für das Ungewöhnliche ließ ihn jedoch zögern.

    Unschlüssig hielt Blank eine Hand über die Augen. In der Ferne bewegte sich anscheinend doch etwas am Straßenrand. Als für einen kurzen Augenblick ein Windhauch durch die Blätter der Bäume fuhr und die Sonnenstrahlen abgeschirmt wurden, war sich Blank ganz sicher.

    Ein Fußgänger, beim sonntäglichen Spaziergang, deutete Blank seine Beobachtung. Bald darauf musste er seine Annahme korrigieren. Die Person stand dort, mitten auf der Straße und sie schien zu winken.

    Irritiert ging Blank der Gestalt entgegen.

    Je näher er kam, desto offensichtlicher wurde es, dass jemand auf sich aufmerksam machen wollte. Da Blank gegen die grellen Sonnenstrahlen schauen musste, konnte er nur die Umrisse der Person erkennen. Er meinte ein buntes Kleid wahrzunehmen, was ihn veranlasste, seine Schritte zu beschleunigen.

    Als er die Rufe hörte, war es klar, dass es eine Frau war, die zweifellos ihn meinte.

    Blank legte einen Zahn zu.

    Kurz darauf vernahm er die erleichtert klingenden Worte: „Gott sei Dank! Sie schickt der Himmel."

    Blank hatte schon eine Erwiderung auf den Lippen, kam aber nicht dazu diese zu äußern, denn die Frau sprach weiter: „Ich bin heilfroh, dass es in dieser öden Gegend doch noch Menschen gibt."

    Da brauchte jemand Hilfe, und wie Blank unschwer hörte, zudem noch eine Norddeutsche. Nicht nur deswegen war Blank selbstverständlich sofort bereit zu helfen.

    „Wo brennt es denn?", fragte er bereits, als er noch ein paar Meter entfernt war.

    „Ich stecke fest. Bitte, Sie müssen mir helfen", entgegnete die junge Frau verzweifelt.

    Blank blieb vor der überaus attraktiven Erscheinung stehen.

    Für einige Sekunden schien die Zeit stillzustehen, als er in die blauen Augen der blondhaarigen Frau schaute.

    Was hatte dieses bezaubernde Geschöpf in diese gottverlassene Gegend verschlagen?

    Wenn hier jemand vom Himmel geschickt worden war, dann doch dieses engelsgleiche Wesen, dachte Blank und fühlte eine bisher noch nie gespürte Wärme in sich aufsteigen.

    „Wie könnte ich einer solchen Bitte widersprechen", hauchte Blank.

    Die junge Frau drehte sich hastig herum. Wobei ihr Kleidersaum in die Höhe flatterte und Blanks Blicke auf die ebenmäßig geformten Beine lenkte. Noch immer überwältigt von diesem Augenblick, in dieser einsamen Gegend eine derart hübsche Person anzutreffen, blieb Blank an Ort und Stelle stehen.

    „Was ist nun! Wollen Sie nicht oder können Sie nicht!", forderte sie Blank auf, ihr zu folgen.

    Wie in Trance trottete Blank hinterher. Sie führte ihn zu einem unbefestigten Feldweg.

    Dort sah er das Problem.

    Offensichtlich hatte die Fahrerin versucht, den festgefahrenen VW-Käfer aus dem Morast zu befreien. Dabei hatte sich ein Hinterreifen nur noch tiefer in das feuchte, aufgewühlte Erdreich eingegraben.

    „Oh!, rief Blank aus, „Sie kommen aus Hamburg.

    Er hatte das Nummernschild gesehen und konnte sich die Frage nicht verkneifen: „Was hat Sie in diese einsame Gegend verschlagen?"

    „Ich bin auf der Suche", entgegnete die Frau schnippisch.

    Noch überwältigt von dieser unerwarteten Begegnung stellte Blank philosophisch fest: „Sind wir das nicht alle, mehr oder weniger."

    Die junge Hamburgerin hatte für derlei Bemerkungen offensichtlich kein Verständnis. Sie schaute Blank verärgert an.

    „Wie mir scheint, haben Sie sich einen äußerst unpassenden Ort für Ihre Suche ausgewählt", stellte Blank unbeeindruckt fest.

    „Wollen Sie sich über mich lustig machen?", fragte sie beleidigt.

    „Selbstverständlich nicht! Entschuldigen Sie bitte. Aber empfinden Sie es nicht auch als ein Wink des Schicksals, dass sich zwei Nordlichter hier in der bayrischen Einöde über den Weg laufen."

    Mit Bedauern stellte Blank fest, dass seine Äußerung nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war, denn die Hamburgerin erwiderte noch immer abweisend: „Ich bin zwar auf der Suche nach einem Mann. Aber auf so einen wie Sie, kann ich gut verzichten."

    Seine sympathische Ausstrahlung war bei dem anderen Geschlecht eigentlich stets erfolgreich angekommen. Diese prompte Abfuhr traf ihn unerwartet. Blank fühlte sich in seiner männlichen Eitelkeit gekränkt. Deshalb ließ er sich zu der Entgegnung hinreißen: „Wenn das so ist, dann kann ich ja wieder gehen."

    Er hatte keineswegs die Absicht, die junge Frau ihrem Schicksal zu überlassen, fand aber, dass die sture Norddeutsche eine Lektion verdient hatte.

    Blank drehte sich um.

    Insgeheim hoffte er, dass sie ihn zurückhalten würde.

    „Halt! Bitte bleiben Sie!", rief sie erwartungsgemäß.

    Blank fiel ein tonnenschwerer Stein vom Herzen.

    Er blieb beruhigt stehen.

    In aller Ruhe wandte er sich um.

    Seine Erleichterung ließ er sich nicht anmerken.

    „Ich habe das nicht so gemeint. Seit einer Stunde versuche ich, diese verdammte Karre aus dem Dreck zu bekommen und meine Nerven liegen blank", erklärte sie, jetzt gar nicht mehr so kühl.

    Blank konnte sich ein spitzbübisches Lächeln nicht verkneifen und entgegnete: „Vielleicht sollten wir noch einmal von vorn beginnen. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Blank."

    Dabei streckte er der Frau seine Hand entgegen.

    Sie schaute ihn zunächst verwundert an, sodass er noch hinzufügte: „Ich heiße wirklich so. Tobias Blank."

    Jetzt hatte sie verstanden und erwiderte das Lächeln.

    So sieht sie noch hübscher aus, dachte Blank begeistert.

    Die junge Frau fasste die dargebotene Hand und sagte: „Ich heiße Renate Fischer und bin wirklich froh Sie kennenzulernen, Tobias Blank. Wie Sie bereits ganz richtig bemerkt haben, komme ich aus Hamburg."

    „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Nach dem wir die Förmlichkeiten ausgetauscht haben, sollten wir uns um den Wagen kümmern."

    Die letzte Aussage war nicht ganz aufrichtig. Eigentlich war ihm das Fahrzeug schnuppe. Am liebsten hätte Blank die Unterhaltung fortgesetzt. Eher widerwillig überlegte er, wie die Bergung vonstatten gehen könnte.

    Der rechte Hinterreifen des Käfers hatte sich regelrecht in dem weichen Erdboden festgefressen. Wie Blank bei der weiteren Untersuchung feststellen konnte, hatte die Hinterachse keinen Bodenkontakt. Mit den bloßen Händen begann Blank den aufgewühlten Boden beiseite zu schaufeln, um den Reifen freizulegen. Dann sammelte Blank in der näheren Umgebung einige herumliegende Zweige auf und stopfte diese in die frei gewühlte Vertiefung hinter dem Antriebsrad.

    Als Nächstes wies er Renate Fischer an, in den Wagen zu steigen. Auf sein Kommando sollte sie den Rückwärtsgang einlegen, ganz langsam die Kupplung kommen lassen und behutsam das Gaspedal betätigen.

    Derweil ging Blank nach vorne. Er stützte sich auf die Haube des Käfers und gab das Zeichen zum Starten des Motors.

    Er stemmte sich gegen das Fahrzeug.

    Es waren einige Versuche erforderlich, bis der Hinterreifen Widerstand in den Zweigen fand.

    Mit allerletzter Kraft konnte Blank den entscheidenden Schubs geben.

    Der in die Jahre gekommene Käfer war wieder frei.

    Renate Fischer sprang aus dem Wagen.

    Dankbar umarmte sie ihren Helfer.

    Liebend gern hätte Blank die Umarmung erwidert. Jedoch besann er sich in letzter Sekunde daran, dass dies mit seinen verschmutzten Händen keine gute Idee war.

    „Ich befürchte, Ihr schöner Wagen bedarf einer gründlichen Wäsche", stellte Blank nüchtern fest. Dabei deutete er zu den Abdrücken auf der Haube.

    „Das macht überhaupt nichts. Ihre Handabdrücke werden mich noch eine ganze Weile an Sie und diese Begegnung erinnern. Tobias Blank, mein Retter in der Not."

    „Auch ich werde unsere Begegnung so schnell nicht vergessen. Selbst dann nicht, wenn meine Hände wieder sauber sein werden", erwiderte Blank.

    Das so kühl und spröde begonnene Aufeinandertreffen der beiden Nordlichter hatte sich doch noch positiv entwickelt. Länger, als es der Anstand erlaubte, standen sich die beiden wortlos gegenüber und schauten sich gedankenverloren in die Augen. „Vielleicht hattest du recht, Tobias, und das Schicksal hat uns hier zusammengeführt. Ich bin noch einige Tage in dieser Gegend und hätte nichts dagegen, wenn wir uns noch einmal begegnen würden."

    „Ich kann es kaum erwarten, Renate. Auch ich bin noch eine Woche hier."

    „Also dann, nochmals vielen Dank für deine Hilfe. Jetzt wird es aber Zeit für mich, dieser unfreiwillige Halt hat meinen ganzen Zeitplan durcheinandergebracht."

    „Bis bald", erwiderte Blank.

    Renate stieg in den Wagen, winkte noch einmal und fuhr rückwärts auf die Landstraße.

    Im nächsten Augenblick war der Käfer aus Blanks Sichtfeld verschwunden.

    Es dauerte noch eine ganze Weile, bis er sich aufraffen konnte, den Rückweg anzutreten.

    Erst als er unterwegs den getrockneten Schmutz an seinen Händen sah, wurde Blank bewusst, dass diese unerwartete Begegnung keinem Traum entsprungen war.

    Der Aufenthalt im Allgäu war bisher recht erfreulich verlaufen, dachte er. Blieb zu hoffen, dass die Nachforschungen auch den erhofften Erfolg bringen würden.

    Wieder zurück im Dorf, machte Blank einen Abstecher zu dem Brunnen, wo er seine Hände vom gröbsten Schmutz befreite.

    Das Gasthaus betrat er durch den Hintereingang, um gleich auf sein Zimmer zu gehen.

    Da er weder Durst noch Hunger verspürte, ließ Blank das Abendessen ausfallen.

    ******

    „Warten Sie auf mich?", fragte der vollbärtige Mann im hellen Kittel und ausgeprägtem Dialekt, als Blank aus dem Auto stieg.

    Seit einer halben Stunde hatte er vor der verschlossenen Tür mit der Aufschrift Büro gewartet. Obwohl es nur ein Katzensprung vom Wirtshaus bis zur Molkerei war, hatte es Blank vorgezogen mit dem Pkw vorzufahren, den er eigens für diesen Einsatz gechartert hatte.

    Ein unscheinbarer Kleinwagen, den Blank bevorzugt bei verdeckten Ermittlungen benutzte, war diesmal nicht angebracht.

    Um seinem Status als Betriebsinspektor etwas mehr Autorität zu verleihen, hatte er sich für eine luxuriöse französische Limousine entschieden.

    Darüber hinaus trug Blank einen modischen Anzug, ganz im Gegensatz zu seiner sonst eher saloppen Bekleidung. Auf eine Krawatte hatte er jedoch verzichtet. Soweit ging sein Modebewusstsein dann doch nicht.

    „Ganz recht, und das schon seit einer halben Stunde", erwiderte Blank gereizt und er schaute dabei demonstrativ auf seine Uhr.

    Dass er so ungehalten auftrat, kam nicht von ungefähr.

    Blank hatte schlecht geschlafen. Schuld daran war jedoch nicht die Unterkunft, sondern die gestrige Begegnung mit der Hamburgerin.

    Die Erinnerungen an diese Frau hatten ihn keinen Schlaf finden lassen.

    Deshalb wollte sich Blank gleich in die Arbeit stürzen, um auf andere Gedanken zu kommen. Leider hatte ihm der Mitarbeiter der Molkerei einen Strich durch die Rechnung gemacht.

    „Um Gottswilla! A Preiß!", rief der Mann aus.

    Dass sein Erscheinen keine Begeisterung auslösen würde, hatte Blank schon erwartet. Eine derartige Bestürzung kam ihm allerdings übertrieben vor und er fragte pikiert: „Wen haben Sie denn erwartet?"

    „Ja mei, a Landsmann eaba. Wenn Sie verstehen was i meine", antwortete der Bayer.

    Sieh einer an, dachte Blank. Es wurde demnach jemand erwartet, obwohl diese Inspektion eigentlich ohne Voranmeldung durchgeführt werden sollte.

    Da hat wohl jemand seinen Mund nicht halten können, dachte Blank. Ansonsten nahm er die Äußerung nicht persönlich.

    Es war nicht sein erster Aufenthalt im ehemaligen Reich von König Ludwig, deshalb wusste Blank, worauf der Süddeutsche anspielte. Für die nationalbewussten Bayern waren alle Mitmenschen nördlich des Mains „Preußen".

    Dass der Bayer an sich, manchmal etwas bärbeißig daher kam, änderte nichts daran, dass der Freistaat zu den beliebtesten Urlaubsgebieten der Deutschen zählte. In der Regel war an der herzlichen Gastfreundschaft der Bayern nichts auszusetzen. Da konnte sich manch ein Norddeutscher noch eine Scheibe abschneiden.

    Wie er die Äußerung des vor ihm stehenden Mannes einschätzen sollte, wusste Blank jedoch nicht. Er entschied sich für eine neutrale Haltung und sagte freundlich: „Ist schon in Ordnung. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Tobias Blank, vereidigter Wirtschaftsprüfer. Ich wurde vom Milchwirtschaftsverband in das schöne Bayern abgeordnet, um mir die Allgäuer Milchbetriebe anzusehen."

    „Und i bin der Haller Sepp. Betriebsleiter der Sammelstelle in Mittelsoin. Und nichts für ungut, Herr Blank. Ich heiße Sie willkommen. Also Grüß Gott."

    Blank nahm die dargebotene Hand und versuchte dem kräftigen Händedruck, ohne mit der Wimper zu zucken, standzuhalten.

    Damit war der Bann gebrochen.

    Herr Haller holte aus einer der Kitteltaschen einen Schlüsselbund heraus.

    Während Blank wartete, bis der Betriebsleiter aufgeschlossen hatte, schaute er über den Hof.

    Zwei Mitarbeiter gingen gerade über den Platz und bestiegen die bereitstehenden Tanklastwagen.

    Haller war wohl Blanks Blick gefolgt und sagte: „Die Kollegen fahren die erste Tour zu den Bauern, um die Milch vom ersten Melken abzuholen."

    Blank nickte und folgte in das einfach eingerichtete Büro.

    „Was möchten Sie sich zuerst ansehen?", wollte Herr Haller wissen.

    „Zunächst muss ich Ihnen etwas gestehen. Dies ist mein erster Besuch in einer Molkerei. Bisher hatte ich es hauptsächlich mit Industrieunternehmen zu tun. Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir einen Mitarbeiter zur Seite stellen würden, der mich in die Arbeitsbereiche dieses Betriebes einweisen könnte."

    Blank hatte sich für diese Vorgehensweise entschieden, da es so nicht auffallen würde, wenn er neugierige Fragen stellte. Über die generellen Arbeitsabläufe war Blank durchaus im Bilde, denn der Molkereiverband hatte der Detektei umfangreiches Informationsmaterial zur Verfügung gestellt.

    Sepp Haller sah Blank überrascht an. Er war offensichtlich nicht sehr angetan davon, einen Fremdenführer abzustellen.

    „Von den Mitarbeitern kann i koin entbehren. Sie müssen schon mit mir vorlieb nehmen", antwortete der Bayer wenig begeistert.

    Während Blank auf den Betriebsleiter gewartet hatte, war ihm eine Überlegung durch den Kopf gegangen: Es wäre durchaus möglich, dass die Auftraggeber einen konkreten Verdacht hegten, was sich hinter den Verunreinigungen der Milchprodukte verbarg.

    Wie sich jetzt gezeigt hatte, war Sepp Haller offensichtlich über den Kontrollbesuch informiert worden. Deshalb verstärkte sich bei Blank der Eindruck, dass es ein Leck in der Führungsetage gab.

    Nur wieso der Detektei keine konkreten Hinweise über die vermutliche Ursache der Verunreinigungen gegeben wurden, war für Blank nicht nachvollziehbar.

    Oder lag es an seinem Freund Miko.

    Möglicherweise hatte er Informationen zurückgehalten, um Blank unvoreingenommen die Ermittlungen durchführen zu lassen. Zuzutrauen wäre es Miko, obwohl sich Blank nicht so einfach beeinflussen ließ.

    Ungeachtet dessen hatte Blank wie stets am Beginn eines Ermittlungsauftrags, einige Theorien entwickelt:

    Nichtbeachtung der Hygienevorschriften, also Schlamperei.

    Absichtliche Verunreinigungen, also Sabotage.

    Dies waren nur zwei Beispiele denkbarer Szenarien.

    Vielleicht steckte auch ein Konkurrent dahinter, der die Produkte der Allgäuer Milchbetriebe verunglimpfen wollte. Bevor er kein genaues Bild hatte, wollte Blank nichts ausschließen.

    „Ich schlage vor, Sie zeigen mir erst einmal alle Arbeitsbereiche, damit ich mich nicht verlaufe. Dann entscheide ich, wo meine Untersuchungen beginnen werden", ergriff Blank die Initiative.

    Haller war nicht begeistert, musste aber notgedrungen zustimmen. Obwohl der Betriebsleiter einen Kontrollbesuch erwartete hatte, schien er nur oberflächlich informiert worden zu sein.

    Was Blank zu der Erkenntnis führte, dass keiner aus der obersten Führungsetage als Informant infrage kommen konnte.

    Dass sich Haller nicht wohl in seiner Haut fühlte, hatte Blank bereits feststellen können. Sein Besuch war dem Mann ganz offenkundig suspekt. Vermutlich, weil er nicht beurteilen konnte, was diese Inspektion eigentlich bezwecken sollte. Diese Unsicherheit wollte Blank aufrechterhalten, indem er auf einen sofortigen Rundgang bestand.

    Die Betriebsbesichtigung führte Blank zuerst in den Aufenthalts- und Umkleideraum der Mitarbeiter. Natürlich war zur Zeit keiner hier, da die Arbeit längst begonnen hatte.

    Wieso Sepp Haller den Rundgang hier begann, wurde Blank erst klar, als er aufgefordert wurde, eine Schutzkleidung anzuziehen. Diese Ganzkörpermontur einschließlich einer weißen Kopfhaube war eine Vorschrift der Lebensmittelüberwachung, wie Blank erklärt wurde. Im Übrigen ein nicht zu verachtender Kostenfaktor, erwähnte Herr Haller, denn die Kleidung musste der Arbeitgeber zur Verfügung stellen.

    Für die Mitarbeiter in der Aufbereitungsanlage war es nicht ungewöhnlich, dass der Betriebsleiter einen Kontrollgang machte. Dass er in Begleitung war, schien auch niemanden aufzuregen.

    Blank bezweifelte aber, dass der Grund seine Anwesenheit lange ein Geheimnis bleiben würde, wenn er länger als andere Besucher hier blieb. Irgendwann würde die Belegschaft Fragen stellen. Dass der Betriebsleiter nichts Genaues sagen konnte, dürfte die Gerüchteküche anheizen.

    Ein Umstand, der durchaus in Blanks Konzept passte. Denn er wollte durch sein steifes, unnahbares Auftreten, dass gängige Bild eines peniblen, unbestechlichen Norddeutschen unterstreichen.

    Obwohl der Betriebsleiter keinen Hehl daraus machte, dass er Blanks Besuch als unerfreulich ansah, wurde Haller im Laufe der Betriebsbegehung umgänglicher.

    Doch das sollte sich bald ändern.

    Blank wollte nämlich alles ganz genau wissen. Er stellte sehr spezifische Fragen über die Funktionsweise der Geräte und Apparaturen, die den stoischen Geschäftsführer an den Rand der Verzweiflung brachten, weil er nicht gleich eine richtige Erklärung fand. Als Blank zum Ende der Besichtigung erklärte, noch die ganze Woche den Betrieb ganz genau zu inspizieren, war es mit der bayerischen Gelassenheit des Betriebsleiters ganz vorbei.

    Wieder in Hallers Büro setzte Blank noch einen drauf und verlangte, auch die Personalakten der Mitarbeiter einsehen zu wollen. Dabei ließ er durchblicken, dass diese Betriebsinspektion einen ausführlichen Bericht zur Folge haben würde und bei Auffälligkeiten weitgehende Konsequenzen, bis hin zur Schließung des Betriebes, daraus resultieren könnten.

    Diese Androhung war keineswegs übertrieben, denn die Zentrale der Allgäuer Milchwerke hatte zu verstehen gegeben, dass sie zu solchen drastischen Maßnahmen bereit wäre, falls die Verunreinigungen auf Nachlässigkeiten zurückzuführen waren. Das unsaubere Lebensmittel in den Handel gelangen könnten, wollte und konnte man nicht tolerieren.

    Allerdings ließ Blank diesen Grund Haller gegenüber unerwähnt, sondern sprach nur die offizielle Begründung an: „Um Spekulationen von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, schlage ich Ihnen vor, die Mitarbeiter dahin gehend zu informieren, dass mein Besuch eine routinemäßige, steuerrechtliche Betriebsprüfung darstellt."

    Diese Erklärung reichte aber nicht aus, um Haller zu beruhigen. Offenbar war ihm bewusst geworden, dass er auf das Wohlwollen des Betriebsinspektors angewiesen war, wenn er seinen Arbeitsplatz behalten wollte.

    Sepp Haller wurde zunehmend freundlicher. Das ging sogar so weit, dass er Blank ohne Umschweife das Büro des Buchhalters zum uneingeschränkten Gebrauch zur Verfügung stellte.

    Da sich dort auch die Personalakten befanden, nahm Blank das Angebot dankbar an.

    Von seinem Antrittsbesuch durchaus angetan, verabschiedete sich Blank in die Mittagspause.

    ******

    Sein Auftritt war besser verlaufen, als er sich ausgemalt hatte. Haller hatte nichts von Blanks eigener Unsicherheit bemerkt und er war davon überzeugt, dass er auf die Mitarbeit des Betriebsleiters zählen konnte. Ob das auch für die anderen Mitarbeiter zutreffen würde, mussten die nächsten Tage zeigen. Spätestens, wenn Blank unangenehme Fragen stellte, könnte sich das Betriebsklima zu seinen Ungunsten verschlechtern. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Schließlich ging es bei den Nachforschungen um den Schutz der Verbraucher, da durften persönliche Befindlichkeiten keine Rolle spielen.

    Eigens für diese Ermittlungen hatte sich Blank einen Aktenkoffer zugelegt, den er jetzt demonstrativ öffnete und einen Notizblock heraus nahm.

    Das Blank dabei von Haller durch das Bürofenster beobachtet wurde, war gewollt. Sollte der Betriebsleiter ruhig den Eindruck bekommen, dass sich Blank über den Verlauf des ersten Gesprächs bereits Notizen machen würde. Was sich Blank tatsächlich aufschrieb, blieb vorerst noch sein Geheimnis. Nach einer Weile stellte Blank den Koffer auf den Beifahrersitz und fuhr vom Betriebshof.

    Obwohl er zeitig aufgestanden war, erschien es Blank noch etwas zu früh für ein Mittagsmahl zu sein. Deshalb wollte er die gestern begonnene Erkundung, in einem größeren Radius mit dem Wagen fortsetzen.

    Zunächst schlug er den Weg nach Untersoin ein.

    Auch an einem normalen Werktag waren in diesem abgelegenen Teil des Allgäus keine weiteren Fahrzeuge unterwegs. Nicht einmal ein Traktor, dachte Blank, was vermutlich daran lag, dass die Heuernte längst vorbei war.

    Der Ort Untersoin bestand im Wesentlichen aus der Ansammlung einiger Bauernhöfe, die von Wiesen mit weidenden Kühen umgeben waren.

    Bis auf eine Hinweistafel, dass es auf einem der Höfe frische Schwammerl zu kaufen gab, fiel Blank nichts Besonderes auf.

    Er wendete und fuhr zurück nach Mittelsoin, um auf die Landstraße nach Obersoin zu gelangen. Dabei kam Blank an der Stelle vorbei, wo er Renate Fischer getroffen hatte.

    Mit wehmütigen Erinnerungen fuhr Blank die bergauf führende Chaussee weiter bis zu dem lichten Wald, den er gestern nur aus der Ferne wahrgenommen hatte.

    Die Landstraße führte kurvenreich hindurch.

    Auf der Kuppe des Höhenzuges begann die Ortschaft Obersoin. Immerhin entsprach die Namensgebung diesbezüglich den örtlichen Gegebenheiten, dachte Blank.

    Die Straße führte jenseits des Berges, wesentlich steiler, in einem weiten Bogen zur Mitte des Ortes. Auch hier gab es landwirtschaftliche Anwesen, die jedoch in der Unterzahl waren. Die meisten Wohnstätten waren wesentlich kleiner.

    Ein- oder Zweifamilienhäuser, die hinter Hecken verborgen scheinbar mitten im Wald standen. Beim vorbei fahren erkannte Blank Limousinen der gehobenen Preisklasse. Offensichtlich hatten sich ein paar finanzstarke Zeitgenossen ein Domizil im Grünen gebaut.

    Am Ortsausgang deutete ein Schild auf einen im Wald liegenden See hin. Das dort ansässige Restaurant pries seine gutbürgerliche Küche und Fischspezialitäten an.

    Beim Lesen dieser Information verspürte Blank jetzt doch ein Hungergefühl. Er wendete und fuhr zurück nach Mittelsoin.

    Auf den für Hausgäste reservierten Plätzen stellte Blank den Wagen ab und betrat das Wirtshaus durch den Nebeneingang. Auf dem Weg durch den Flur sah Blank in die Küche. Der rothaarige Koch stand genau wie gestern hinter den Töpfen und bereitete das Mittagessen zu. Eine Küchenhilfe schälte Kartoffeln.

    Nicht gerade ein Traumjob, dachte Blank, denn das Küchenpersonal stand jeden Tag und sogar am Wochenende am Herd.

    Einmal mehr dankte Blank den glücklichen Umständen, seine Tätigkeit frei einteilen zu können. Na ja, gewisse Einschränkungen gab es zuweilen schon.

    Zu seinem momentanen Job hatte ihn sein Freund und Geschäftspartner Miko überredet. So völlig frei war eben auch ein ungebundener Privatermittler nicht. Aber immerhin konnte Blank ohne Zwang entscheiden, wie er einen Auftrag durchführte.

    Wahrscheinlich empfanden auch Köche dieses Gefühl von Freiheit, schließlich lag es in deren Händen, wie sie die Speisen zubereiteten.

    In der Gaststube wurde Blank von der Kellnerin freundlich begrüßt: „Grüß Gott, Herr Blank. Ich habe am Stammtisch für Sie eingedeckt."

    Artig bedankte sich Blank, obwohl ihm der zugedachte Platz nicht zusagte. Lieber hätte er sich allein an einen abseitsstehenden Tisch zurückgezogen. Zudem dürften es die Einheimischen nicht gerne sehen, wenn sich ein Fremder, noch dazu ein Preuße, das Recht herausnahm, am Stammtisch Platz zu nehmen.

    Doch zu Blanks Überraschung nickten ihm die zwei jungen Burschen, die hinter den Bierkrügen saßen, freundlich zu.

    Als Hausgast stand ihm wohl das Privileg zu, hier sitzen zu dürfen. Anders konnte sich Blank diese nette Begrüßung nicht erklären.

    Aber, vielleicht hatte das auch einen anderen Grund. Die beiden Männer kamen Blank nämlich bekannt vor. Aus den wenigen, für ihn verständlichen Wortfetzen die sie miteinander Sprachen, war sich Blank bald sicher, dass es die Fahrer waren, die er heute Morgen auf dem Hof der Milchsammelstelle gesehen hatte.

    Dass Lkw-Fahrer bereits in der Mittagspause bei einem Glas Bier zusammensaßen, wäre in Norddeutschland undenkbar, dachte Blank, aber hier in Bayern schien das ganz normal zu sein.

    Die Kellnerin kam an den Tisch und fragte nach seinen Wünschen.

    Blank bestellte demonstrativ ein Mineralwasser und stimmte auch heute dem Menüvorschlag zu, den die Bedienung offerierte: Allgäuer Kässpatzen.

    Einer der jungen Männer sprach Blank ganz unvermittelt an. Da er seine Herkunft erkannt hatte, bemühte er sich verständlich zu sprechen: „Bleibens länger in unserm schönen Allgäu?"

    „Das wird sich in den nächsten Tagen zeigen, antwortete Blank vielsagend und fügte hinzu: „Eines kann ich aber schon jetzt sagen: Hier ist es recht beschaulich – und vor allem ruhig.

    „Ja mei, dös will i meinen. Für einen geruhsamen Urlaub sind Sie hier genau richtig."

    „Es ist nur schade, dass ich nicht zur Erholung hier bin", entgegnete Blank und er war froh, dass sein Essen serviert wurde. So konnte er einer weiteren Unterhaltung aus dem Weg gehen.

    „Guten Appetit, sagte der Fahrer noch, bevor er sich an seinen Kollegen wandte: „Es wird Zeit, Franzl.

    Die Männer tranken ihr Bier aus und verließen die Wirtsstube.

    Blank nahm sich vor, als Erstes die Personalakten der Fahrer näher in Augenschein zu nehmen. Nicht etwa, weil sie sich ein Bier während der Arbeitszeit genehmigten, sondern weil er irgendwo anfangen musste. Außerdem hatten die Männer ungehinderten Zugang zur Rohmilch, da sie diese bei den Bauern abholten.

    Kaum hatte Blank diesen Entschluss gefasst, reifte noch eine Überlegung: Um ein umfassendes Bild vom Transportweg der Milch zu bekommen, wäre es zweckmäßig, auch die Bauernhöfe in die Untersuchungen einzubeziehen.

    Wie er das bewerkstelligen könnte, musste sich Blank allerdings noch überlegen. So widerspruchslos, wie er sich in der Sammelstelle umsehen konnte, würden die Bauern sicherlich keinen Zugang zu den Ställen erlauben.

    Oder vielleicht doch!

    Es dürfte im ureigenen Interesse der Bauern liegen, dass ihre abgelieferte Milch in einwandfreiem Zustand war. Schließlich bestimmte nicht zuletzt die Qualität auch den Preis, den sie für ihr Produkt erhielten.

    Auf der anderen Seite wusste Blank aber auch, dass die Molkerei eine ständige Qualitätskontrolle durchführte. Ob die Bauern einer zusätzlichen Prüfung zustimmen würden, musste alsbald geklärt werden.

    Eine der nächsten Aufgaben nahm sich Blank vor. Jetzt widmete er sich wieder der Mahlzeit, bevor diese völlig kalt war.

    Gesättigt schaute Blank kurz darauf aus dem Fenster des Gasthofs.

    Ein Traktor tuckerte gemächlich vorbei.

    Das war nichts Ungewöhnliches. Aber Blank wollte seinen Augen nicht trauen, was er dahinter erblickte.

    Ein VW-Käfer.

    In dieser fahrzeugarmen Gegend dürfte es kaum noch so ein Gefährt geben.

    Demnach musste es die Hamburgerin sein.

    Sie fuhr auf der Landstraße in Richtung Obersoin.

    Am liebsten wäre Blank aufgesprungen und hinterher gefahren.

    Er verwarf diesen spontanen Gedanken jedoch genau so schnell, wie er gekommen war. Schließlich hatte er einen Job zu erledigen und in der Milchsammelstelle wartete man bestimmt schon auf ihn.

    ******

    Sepp Haller führte Blank in einen Nebenraum, der vom Buchhalter bereits geräumt worden war. Blank bedankte sich für die Kooperation und bat darum, allein gelassen zu werden.

    Dem Molkereileiter war das nur allzu recht.

    Blank verbrachte den Nachmittag damit, die Personalpapiere durchzusehen.

    Dass er dabei nichts Auffälliges feststellen konnte, lag zum einen daran, dass die Personalunterlagen keine brauchbaren Informationen enthielten, die einen Anfangsverdacht begründet hätten.

    Zum anderen lag es auch daran, das Blank mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war. Die hübsche Hamburgerin ging ihm nicht aus dem Sinn. Anstatt sich mit den langweiligen Lebensläufen der Molkereimitarbeiter zu befassen, hätte Blank liebend gern mehr über Renate in Erfahrung gebracht.

    Bisher wusste er lediglich, dass sie aus Hamburg kam und nach einer ganz bestimmten Person Ausschau hielt. Wer immer das auch sein mochte. Derjenige konnte sich glücklich schätzen, von so einer Frau gesucht zu werden.

    Kurz vor 16.00 Uhr hielt Blank nichts mehr in dem spartanisch eingerichteten Büro. Er legte die Papiere zurück in den Schrank und verließ den Raum. Von Sepp Haller war nichts zu sehen. Wahrscheinlich hatte er bereits Feierabend gemacht, dachte Blank, aber das interessierte ihn im Moment nicht.

    Seinem Instinkt folgend, fuhr Blank nach Obersoin. Diese Richtung hatte Renate eingeschlagen.

    Aber was war ihr Ziel gewesen?

    Blank ließ den Wagen im Schritttempo durch das Dorf rollen und suchte nach dem Käfer.

    Möglicherweise hatte Renate hier irgendwo ein Zimmer gemietet, überlegte er.

    Doch fand Blank weder das gesuchte Fahrzeug, noch einen Hinweis, dass hier überhaupt Fremdenzimmer angeboten wurden.

    Tief enttäuscht hielt Blank am Ortsende an.

    Er blickte versonnen auf das Hinweisschild, welches auf den nahe gelegenen Waldsee aufmerksam machte.

    Kurz entschlossen lenkte Blank den Wagen auf den asphaltierten Weg, der in den Wald führte. Erste Vorboten des herannahenden Winters, in Form von welkem Laub, lagen verstreut auf dem verwaisten Waldweg. Die schattige Straße war feucht und in Verbindung mit den Blättern rutschig.

    Blank hoffte, dass ihm kein Fahrzeug entgegen kommen würde, denn an ein Ausweichmanöver war nicht zu denken.

    Die Besorgnis war jedoch unbegründet. Nach etwa Hundert Metern lichtete sich der Wald und gab den Blick frei auf einen ovalen See.

    Das ruhige Gewässer lag idyllisch in einem von immergrünen Nadelbäumen eingerahmten Tal. Eine Wandertafel am Wegesrand zeigte an, dass der Rundweg um den See einen Fußmarsch von 3,5 Kilometern bedeutete.

    Offenbar gab es tatsächlich Leute, die sich davon inspirieren ließen, denn Blank sah auf der anderen Seite des Sees zwei Spaziergänger.

    Die Zufahrt beschrieb einen scharfen Knick nach links am Ufer des Sees vorbei. Der Weg endete auf einem unbefestigten Parkplatz, der offensichtlich zu dem Ausflugslokal am Waldsee gehörte.

    Enttäuscht stellte Blank fest, dass dort nur ein Pkw stand. Vermutlich gehörte er den Wandersleuten, denn es war kein Käfer.

    Trotzdem fuhr Blank weiter.

    Er stellte den Wagen ab und betrat das Restaurant.

    Es wunderte ihn nicht, dass sich sonst niemand hierher verirrt hatte. Der Sommer war vorbei und um diese Jahreszeit waren wohl nur noch eingefleischte Wandervögel unterwegs.

    Ob sich der Betrieb einer Gaststätte in dieser Einsamkeit überhaupt lohnte, dachte Blank, als er sich an einen Tisch am Fenster setzte. Etwas traurig, in Gedanken versunken, schaute Blank aus dem Fenster und sah den Enten auf dem See zu.

    Trippelnde Schritte veranlassten Blank, den Kopf zu drehen.

    Augenblicklich änderte sich seine Gemütsverfassung.

    Was er eigentlich schon abgehakt hatte, war doch eingetroffen.

    Obwohl Blank davon geträumt hatte, so hätte er sich das Wiedersehen nicht vorgestellt.

    Die junge Frau schien ebenso überrascht zu sein. Sie schluckte verlegen, bevor sie den Gast ansprach: „Sie sehen nicht wie ein Wanderer aus, der sich zufällig hierher verlaufen hat. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass Sie mich verfolgt haben."

    Natürlich war so. Nur hätte Blank das niemals offen zugegeben.

    „Waren wir nicht schon beim du, Renate", stellte er stattdessen freudig überrascht fest.

    „Das war wohl etwas voreilig von mir. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass wir uns tatsächlich noch einmal begegnen würden", entgegnete die Hamburgerin reserviert.

    Blank wurde unsicher. Ob sie das wirklich ernst meinte?

    Da er schwieg, forderte Renate mit ernster Stimme: „Nun rede schon! Was führt dich in diese gottverlassene Gaststätte?"

    „Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen, antwortete Blank und er stellte fest: „Wie mir scheint, bist du nicht als Gast in diesem Etablissement.

    „Ich habe zuerst gefragt", stellte Renate verärgert klar.

    „Warum bist du so grantig? Gibt es wieder Probleme mit deinem Käfer. Ich habe ihn draußen nicht gesehen", sagte Blank.

    „Meinem Auto geht es gut. Jetzt sag mir lieber, was du wirklich hier willst", forderte Renate erneut.

    Ziemlich kratzbürstig die junge Deern, dachte Blank, und laut erwiderte er: „Ich bin rein zufällig durch Obersoin gefahren und habe das Hinweisschild gelesen. Ist doch ganz nett hier und so friedlich. Gerade richtig, um etwas zu entspannen. Das solltest du vielleicht auch tun."

    „Von wegen Zufall. Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Im Übrigen habe ich keinen Nerv zum Faulenzen, antwortete Renate aufgebracht und sie stellte Blank vor die Wahl: „Entweder du bestellst jetzt etwas oder du verschwindest wieder. Ich habe keine Lust mir Ärger mit dem Chef einzubrocken.

    „Entschuldige bitte, das möchte ich natürlich nicht. Also bring mir einfach eine Flasche Wein. Es darf auch ruhig etwas teurer sein."

    Renate schaute Blank mürrisch an und eilte davon.

    Was war ihr denn über die Leber gelaufen, dachte Blank. Wo war das charmante Lächeln geblieben, das ihn bis in seine Träume verfolgt hatte? Irgendetwas schien der Hamburgerin ernsthafte Sorgen zu bereiten. Blank wünschte sich nichts lieber, als die Frau wieder glücklich zu sehen.

    „Möchtest du darüber reden. Vielleicht kann ich dir helfen?", fragte er besorgt nach, als Renate mit einer geöffneten Flasche Rotburgunder zurückkam.

    „Ich wüsste nicht, wie du mir helfen könntest, Tobias", erwiderte Renate betrübt.

    Immerhin hatte sie sich seinen Namen gemerkt, dachte Blank beschwingt. Das war doch schon mal ein Anfang.

    „Es käme auf einen Versuch an. Schließlich konnte ich schon einmal behilflich sein", stellte Blank fest.

    „Ein Auto aus dem Dreck zu schieben, ist die eine Sache und dafür bin ich dir auch dankbar. Nur gehen dich meine anderen Probleme nun wirklich nichts an. Außerdem kennen wir uns doch gar nicht."

    „Das lässt sich ändern", schlug Blank vor, denn er spürte das Renate kurz davor stand, die Ursachen ihres Kummers anzusprechen.

    „Setz dich zu mir und erzähl einfach, was dich bedrückt."

    Renate zögerte.

    Sie sah sich Hilfe suchend in dem Lokal um.

    „Nur keine scheu. Ich bin ein guter Zuhörer und sonst ist keiner hier."

    Zu dieser Erkenntnis schien auch die Hamburgerin gekommen zu sein.

    Nach kurzer Bedenkzeit setzte sie sich an den Tisch und schaute Blank nachdenklich an.

    „Dies ist ein ziemlich entlegener Ort, für eine attraktive junge Frau", stellte Blank fest und hoffte das letzte Eis zum Tauen zu bringen.

    „Eine arme Studentin kann nicht wählerisch sein und muss nehmen, was sie kriegen kann", stellte Renate frustriert fest.

    Diese Einsicht entsprach nicht Blanks Erwartungen. Daher fragte er direkt nach: „So weit ich mich erinnere, suchst du jemanden. Vielleicht kann ich dir diesbezüglich wirklich helfen?"

    „Woher weißt du …, ach ja, ich hatte so was erwähnt. Na schön, warum eigentlich nicht. So allmählich läuft mir die Zeit davon. Also, ich bin tatsächlich auf der Suche. Es geht um einen Wissenschaftler mit dem Namen Hirato Meisanto."

    „Hast du keine Adresse?", fragte Blank verwundert.

    „Leider nicht. Ich weiß lediglich, dass er sich im Allgäu aufhalten soll. Aber, das ist das geringste meiner Probleme."

    Blank wurde nicht ganz schlau aus den Angaben.

    „Ich glaube, du solltest etwas deutlicher werden", schlug er vor.

    „Das ist eine längere Geschichte. Ich weiß nicht recht, ob ich dich damit wirklich behelligen sollte."

    „Tu es einfach. Ich habe Zeit. Oder vertraust du mir nicht."

    „Doch, eigentlich schon. Es würde mich aber beruhigen, wenn du mir verrätst, wo du herkommst und was du hier machst."

    „Kein Problem. Ich bin aus beruflichen Gründen hier und erst gestern aus Hannover gekommen. In meiner Funktion als Wirtschaftsprüfer soll ich einige Betriebe im Allgäu überprüfen", sagte Blank wahrheitsgemäß.

    „Du hast demnach nichts mit der Hamburger Uni zu tun oder kennst dort vielleicht jemanden", wollte Renate noch wissen.

    „Ich habe nie das Bedürfnis gespürt, eine Universität zu besuchen. Vielleicht ergibt sich irgendwann einmal die Gelegenheit. Darf ich meinerseits fragen, wieso du das wissen möchtest."

    „Ach, das ist nicht so wichtig", erwiderte Renate ausweichend.

    Blank wollte nicht zu neugierig erscheinen. Daher fasste er nur zusammen, was Renate bisher verraten hatte: „Du studierst also in Hamburg, bist einfach mal so in den Süden gefahren, um einen Wissenschaftler zu besuchen, von dem du nur den Namen kennst und nicht genau weißt, wo er wohnt. Habe ich das so weit richtig verstanden."

    Renate verzog ihr Gesicht zu einem verkniffenen Grinsen: „So wie du das sagst, klingt es zynisch. Aber im Prinzip stimmt es. Hört sich ziemlich blauäugig an, typisch für eine Blondine. Oder, was denkst du sonst noch über mich?"

    Hoppla!

    Holzauge sei wachsam!

    Jetzt nur nichts Falsches sagen, dachte Blank.

    „Nun, ich denke mir, dass eine sehr hübsche und kluge Studentin, die Hilfe eines netten, sympathischen Herrn benötigt, der zufälligerweise vor ihr sitzt und ebenso naiv seine Hilfe anbietet, ohne genau zu wissen, um was es eigentlich geht."

    Renates Gesichtsausdruck vollzog eine erfreuliche Veränderung, stellte Blank erleichtert fest.

    „Du scheinst ein Charmeur zu sein. Ich hoffe, du bist kein Aufschneider und möchtest mir wirklich helfen. Also gut. Vor ungefähr drei Monaten habe ich bei Experimenten im Labor eine außergewöhnliche Entdeckung gemacht. Dieses Phänomen war selbst für meinen Professor so neu, dass er dafür keine Erklärung fand. Er meinte, ich hätte bei den Analysen irgendetwas falsch gemacht und wollte davon nichts mehr wissen. Dann habe ich aber zufällig ein Telefongespräch belauscht und seitdem bin ich mir ziemlich sicher, dass ich keinen Fehler gemacht habe. Mein Prof hat mit jemandem über meine Arbeit gesprochen, als ich nach einer Vorlesung vor seinem Büro auf ihn gewartet habe. Dabei ist der Name Meisanto gefallen und ich habe später ein wenig nachgeforscht. Leider ist über den Herrn nur sehr wenig in Erfahrung zu bringen. Persönliche

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