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Die Zeit vor dem Tod
Die Zeit vor dem Tod
Die Zeit vor dem Tod
Ebook177 pages2 hours

Die Zeit vor dem Tod

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About this ebook

Fünf Menschenschicksale im Zweiten Weltkrieg, spannend, tragisch und verstörend miteinander verbunden. Die Zeit vor dem Tod ist ein spannender Roman über einen dänischen Polizisten, einen englischen Fliegerbomber-Piloten, ein zwölfjähriges Mädchen und einen deutschen und einen russischen Soldaten, die schicksalhaft im Zweiten Weltkrieg miteinander verbunden sind. Alle kämpfen einen mutigen Kampf, um in den Wirren des Krieges überleben zu können – aber letzten Endes sind es simple Zufälle, die über ihr Schicksal bestimmen."Eine schreckliche, ans Herz gehende Geschichte über einen Krieg, den niemand vergessen darf." - Camilla Mader Laugesen"Ein seltenes Buch ... ein Meisterstück." - Fyens Stiftstidende-
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateFeb 27, 2019
ISBN9788726071306
Die Zeit vor dem Tod

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    Die Zeit vor dem Tod - Jesper Bugge Kold

    www.egmont.com

    Teil 1

    Sanft und mit behaglichem Schmatzen schwappt das Wasser gegen den Rumpf des Schiffes. Normalerweise beruhigt das Geräusch Axel, aber nicht heute. Sonst erinnert es ihn an Sonnenstrahlen im Sommer, an Opas Jolle, daran, wie sie zusammen Netze ausgelegt und zur Südspitze Schwedens, die man deutlich sehen konnte, rübergeschaut haben, wie sie ihre Lunchpakete gemampft und Zitronensaft dazu getrunken haben. Aber in Zukunft wird er etwas anderes mit dem Geräusch verbinden: Unsicherheit und Angst.

    Er hätte es ahnen müssen. Poul, Keld und einige der anderen, die von den Nazis so begeistert sind, waren kurz vor dem Fliegeralarm aus dem Polizeipräsidium verschwunden. Im Nachhinein entpuppten sich ihre „dienstlichen Belange" als faule Ausreden. Als die Sirenen losheulten, hörte Axel Explosionen, lautes Rufen und Schüsse. Jeder Widerstand war zwecklos, die Deutschen hatten das Präsidium umstellt und sie hatten Maschinengewehre und Panzerfäuste.

    Ohne Rücksicht auf ihren polizeilichen Rang mussten sie sich in Reihen aufstellen. Axel stand hinter Inspektor Ruggård, aber in diesem Moment waren sie gleich. Der sonst so barsche Inspektor schien wie verwandelt. Mit krummem Rücken stand er da wie eine zusammengesunkene Marionette, und als einer der Soldaten einige Warnschüsse in die Luft abfeuerte, um für Ruhe zu sorgen, zuckte Ruggård zusammen wie ein verängstigtes Kind. In diesem Augenblick wurde allen klar, wie ernst ihre Lage war.

    Sie wurden gefilzt und entwaffnet und stundenlang ließ man sie im kreisrunden Innenhof des Präsidiums stehen und warten. Dann wurden sie auf die Otto Mønsteds Gade gedrängt und auf Lastwagen gescheucht, die bereit standen. Auf den Ladeflächen empfingen deutsche Soldaten sie, mit entsicherten Maschinenpistolen im Anschlag.

    Die Lastwagen setzten sich in Bewegung, rumpelten durch die Straßen der Kopenhagener Innenstadt, Vestre Boulevard, Nørre Voldgade, Østre Voldgade, an der Schwedischen Kirche vorbei. Die Stadt zog vor ihren Augen vorüber. Das Tor zum Freihafen. Am Ende des Langelinjekais lag ein Schiff, M/S Cometa konnte Axel am Achtersteven entziffern. Sie warteten darauf an Bord gelassen zu werden. Sie waren die Ladung.

    Sie sind viel zu viele hier unten im Laderaum. Axel versucht, eine erträgliche Position zu finden, kann sich aber so gut wie nicht bewegen. Wie Jutesäcke werden sie gestapelt. Im Vorschiff ist sehr wenig Platz. Sie können nicht stehen, sie können nicht sitzen. Ihre Rücken stoßen aneinander, ihre Beine verhaken sich. Fast liegen sie übereinander.

    Das Schiff befindet sich noch im Hafen. Es ist Abend und sie haben Angst. Einige meinen, man werde sie nach Bornholm bringen, einige meinen nach Deutschland. Wieder andere glauben, das Schiff werde auf offener See versenkt, mitsamt seiner Ladung. Mit ihnen.

    Er denkt, dass der Meeresgrund immer noch besser ist als Deutschland. Alle haben die Gerüchte über die Konzentrationslager gehört und es sind zu viele, als dass es bloße Schauergeschichten sein könnten. Wenn sie dort landen, wird Axel wahrscheinlich nicht zurückkehren.

    Er sieht Kamma vor sich. Sie lehnt sich gegen den Küchentisch. Eine Hand auf dem stetig wachsenden Bauch. Seine Hand auf ihrer Hand. Bald wird ihre kleine Wohnung Zuwachs bekommen. Der Gedanke, dass er heute nicht von der Arbeit nach Hause kommen wird, dass er nicht an seinem gewohnten Platz am Tisch sitzen und sein Abendessen zu sich nehmen wird, Kamma sich nicht an ihn schmiegen wird, brennt als beißender Schmerz in seiner Magengrube. Wann er sie wohl wiedersehen wird? Wird sie erfahren, was mit ihm geschehen ist? Und was wird mit ihm geschehen?

    Die Ladeluken sind fest verschlossen. Nicht lange, und die Luft wird stickig. Sie hat kaum noch Energie in sich, ist warm und drückend. Es stinkt nach Motoröl und zusammengepferchten Menschen. Axel hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Neben ihm ringt Johannes nach Luft. Es dringt keinerlei frische Luft hier nach unten. Sie wird nur immer schwerer und schlechter. Einige werden ohnmächtig.

    „Macht endlich die Luken auf, zum Teufel! Mit aller Kraft schlägt Axel gegen die Schiffswand. „Wir kriegen keine Luft.

    Johannes stöhnt und schnappt krampfhaft nach Luft.

    „Helft mir", sagt Axel.

    Während Erik Johannes stützt, löst Axel die Krawatte des älteren Polizeihauptwachtmeisters und knöpft dessen Hemd auf. Johannes' Gesicht ist feuerrot. Seine Hände fuchteln, als wolle er sich irgendwo festhalten. Ein pfeifender Laut ist zu hören, jedes Mal wenn er versucht einzuatmen. Axel fasst seine Hand und Johannes drückt sie fest und lange. Er beruhigt sich ein wenig. Plötzlich folgt ein lauter, langgezogener Atemzug, dann ein Keuchen und der Körper bewegt sich nicht mehr. Johannes ist tot.

    Lange sitzen sie da, zwischen sich den toten Polizeihauptwachtmeister. Er wird nur einer von vielen sein, denkt Axel. Wen wird es als Nächsten treffen?

    Erik hat seine Uhr noch. Es ist Nacht, als ein paar Soldaten Johannes' Leiche wegschaffen. Die wenigen Momente, in denen die Ladeluke geöffnet ist, saugen alle gierig die Luft ein. Oben auf Deck sind Rufe zu hören und jemand schießt. Das Schiff schlägt gegen den Kai. Alle fallen durcheinander und Axel verkeilt sich mit Erik und einem jüngeren Kollegen. Das Schiff setzt sich in Bewegung. Dumpf vor sich hin hämmernd arbeitet der Motor und ein schwerer Geruch nach Öl breitet sich wieder im Laderaum aus.

    Stoisch stampft das Schiff durch die Nacht. Niemand schläft und die Nacht ist unendlich lang. Erst am nächsten Vormittag bekommen sie etwas zu essen. Brot, ein wenig Wurst und Wasser. In kleinen Gruppen dürfen sie an Deck und frische Luft schnappen. Axel wartet den ganzen Tag lang. Als er an der Reihe ist, versinkt am Horizont gerade die Sonne. Es ist ein schöner Anblick.

    Zurück im Laderaum versucht er vor Augen zu behalten, was er eben gesehen hat. Plötzlich werden die Luken geschlossen. Um sie herum ist alles stockdunkel. Er kann die Ankerkette hören, die rasselnd nach unten fällt, dann den Anker, der mit einem Platschen im Wasser versinkt. Nicht weit von ihm versucht jemand ein Schluchzen zu unterdrücken.

    Noch eine Nacht vergeht, ohne Schlaf und quälend langsam. Dann das Geräusch des Ankerspills und das Schiff setzt sich in Bewegung. Ein paar Stunden später spürt er, wie der Rumpf an einem Kai andockt. Die Ladeluken werden geöffnet und sie dürfen nach oben ins Freie.

    Axel tippt Erik auf die Schulter. Er soll fragen, denn er kann Deutsch. Erik will nicht, aber Axel überzeugt ihn davon, dass sie wissen müssen, wo sie sich befinden. Widerwillig wendet sein Kollege sich an einen jungen Matrosen.

    „Wo sind wir?"

    „Lübeck", lautet die kurze Antwort.

    Axels schlimmste Befürchtungen sind wahr geworden. Sie sind in Deutschland.

    Die Lichtkegel der Scheinwerfer schneiden große Löcher in die Dunkelheit. Sie sind an den Gebäuden auf dem Kai angebracht, wie Augen, die sie überwachen. Dann treffen die Lichter Axel und bohren sich in ihn hinein, sodass es fast körperlich wehtut. Sie finden ihn unter den anderen und fixieren seine riesenhafte Gestalt auf den Deckplanken des Schiffs.

    Der Kai ist mit mehreren Reihen Stacheldraht eingezäunt. Gänge und Wege führen hindurch wie in einem verwinkelten Dorf aus spitzem, scharfkantigen Metall. Wie angewurzelt steht er da, paralysiert von dem ungastlichen Empfang.

    Überall sind Soldaten und sie sehen alle gleich aus: starrende Augen unter dem Rand eines Stahlhelms, Maschinenpistole an die Hüfte gedrückt, den Finger am Abzug. Die Scheinwerfer projizieren ein glänzendes Licht auf ihre Uniformen. Ihre Bewegungen sind schnell und fieberhaft, ein Ellbogen stößt Axel unnötig hart in den Rücken.

    Die Gefangenen steigen die Leiter hinunter. Eine lange Reihe verstörter Männer. Axels Beine zittern. Er muss sich aufs Gehen konzentrieren. Die Schritte, die seit seiner Kindheit das Einfachste von der Welt zu sein schienen, verlangen ihm jetzt große Anstrengung ab. Aber die Uniformen zwingen ihn zu gehen. Sie brüllen ihn vorwärts.

    Ein Hund knurrt ihn an, als er zögert, ein bissiges, gefährliches Knurren, und er gerät ins Stolpern und fällt. Gefletschte Zähne, von denen der Geifer tropft, direkt vor seinem Gesicht, ein Schlund, bereit, ihn in Stücke zu reißen. Auf den Knien zieht er sich zurück. Ein Soldat reißt energisch an der Hundeleine und wimmernd verschwindet der Schlund.

    Der Soldat greift ihm unter den Arm und hilft ihm hoch. Überrascht von der plötzlichen Freundlichkeit, will er dem Soldaten zulächeln, doch der Mann ist schon zu weit weg.

    Der Kai ist ein einziges Wirrwarr aus Soldaten und Gefangenen, die vorwärts getrieben werden. Die Soldaten brüllen Befehle nach links und rechts. „Los, los." Die Gefangenen sind stumm.

    Die Beine bewegen sich automatisch vorwärts. Er vermeidet jeden Blickkontakt, blickt starr auf den Rücken vor sich. Es ist Eriks Rücken. Der Anblick seines Kollegen steigert seine Angst. Sie sind alle hier. Zu Hause sitzen ihre Frauen in Ungewissheit. Vielleicht haben die Zeitungen etwas geschrieben oder vielleicht wissen sie absolut nichts darüber, was mit ihren Männern passiert ist? Zu Hause wartet Kamma.

    Ein Stück entfernt kann er undeutliche Konturen erahnen. Dunkle Rechtecke. Es sind Waggons, ein Zug, zu dem er und die anderen Gefangenen getrieben werden. Endlich wird er sich setzen können, vielleicht den Kopf an eine Scheibe lehnen und sich ausruhen können. Er wird an Kamma denken. An ihre Berührung, ihre Hand, die über seine Wange streichelt, die Fingerspitzen, die ihn am Ohr kitzeln. Er wird sie anschauen. Einen Schritt zurücktreten und sie betrachten. Ihren runden Bauch, die weichen Gesichtszüge, die Augen, die ihn ansehen, wie sonst niemand es kann.

    Ohne es zu bemerken, ist er stehen geblieben. Der Gedanke ist es, der ihn dazu bringt. Nie zuvor war er von etwas so überzeugt, selten einmal hat etwas ihn mehr erfüllt: Er muss und er wird nach Hause zurückkehren. Dann spürt er den heftigen Stoß eines Gewehrkolbens im Rücken. Der Schmerz zieht wie ein elektrischer Schlag bis in seinen Kopf. Er muss sich an Erik festhalten um nicht zu stürzen. Eine heisere Stimme direkt an seinem Ohr brüllt das einzige Wort, das er gehört hat, seit sie aus dem Laderaum gestiegen sind. „Los!"

    Die Waggons haben keine Fenster, nur Gitter, wie in einem Gefängnis. Sie sind nicht dazu gebaut, Menschen zu transportieren, sondern Tiere. Kurz darauf hocken alle Polizisten in den Viehwaggons, eng zusammengepfercht wie im Laderaum des Schiffs. Sie sind zu viele und die Luft ist zu schlecht. Ein strenger Geruch nach Tierexkrementen steigt vom Boden des Waggons auf. Eine stinkende Pfütze schwappt träge über die Bretter und wächst mit jedem Gefangenen, der nichts anders kann, als sich in eine Ecke zu schieben und Wasser zu lassen.

    Mit lautem Krachen werden sämtliche Luken geschlossen. Der Waggon wird verriegelt und in einem Gefängnis auf Rädern setzen sie sich in Bewegung.

    Die Wände sind aus Holz. Der Wind pfeift durch den Waggon und die Gefangenen, die vorne stehen, bilden unfreiwillig einen Schutzwall für die übrigen. Axel steht an eine der Seitenwände gedrängt und blickt durch die Ritzen zwischen den Bohlen. Die Landschaft zieht vorbei, zerstört und entstellt. Der Krieg hat seine eigene Heimat nicht verschont.

    Plötzlich sieht er sich selbst, draußen, außerhalb des Waggons; ein neugieriges Kind, das nach jemanden oder nach etwas Ausschau hält. Er fühlt sich so hilflos wie das Kind, das er betrachtet. Wieder gehen seine Gedanken auf Wanderschaft, bewegen sich entgegen der Fahrtrichtung des Zuges nach Hause zu Kamma und dem Kleinen. Dem Ungeborenen.

    Es ist erst September, aber winterlich kalt. Axels Körper ist steif, in den Beinen ein unangenehmes Kribbeln. Er versucht sich zu bewegen, doch es geht nicht, sie stehen zu dicht aneinander gedrückt. Jegliche Körperwärme ist durch die Ritzen in den Wänden verschwunden, die Männer frieren und klappern mit den Zähnen. Es ist viel zu wenig Platz, um sich die Arme um den Leib zu schlagen und so etwas aufzuwärmen. Es ist nur Platz für Gedanken. Und Angst.

    Ein paar Mal hält der Zug an. Niemand weiß warum und niemand stellt mehr Vermutungen an. Andere Züge fahren vorbei. Zwischen den Bodenbrettern kann er die Bahnschwellen erahnen. Dann bewegt sich ihr Zug wieder. Das Geräusch der Räder auf den Schienenübergängen wirkt so friedlich, so ruhig und ungefährlich.

    „Wo zum Teufel bringen sie uns hin?", ruft eine heisere, vor Kälte zitternde Stimme.

    Die Frage lässt einen von ihnen schluchzend zusammenbrechen. Die Umstehenden sprechen ihm Mut zu, sagen Dinge, an die sie selbst nicht glauben, dass alles schon wieder werden wird, dass es sicher nicht so schlimm werden wird. Ihre Worte helfen, obwohl er weiß, dass sie lügen. Der Kollege richtet sich auf und in der Dunkelheit erahnt Axel einen Anflug von Trotz in seinen Augen.

    Wieder

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