Kaliber .64: Der verschwundene Gast: 64 Seiten und Schluss!
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Kaliber .64 - Friedrich Ani
(ePub)
1
»Früher«, sagte die Frau im weißen Kittel, ohne ihre Stimme vor den zwei Kundinnen zu senken, die sich an ihr vorbeizwängten, »hätten Sie mich in so einem Laden nicht angetroffen.«
Unter dem ärmellosen Kittel trug sie eine schwarze Jeans und eine blaue Bluse. Der Kittel, der ihr mindestens eine Nummer zu groß war, hing an ihr herunter und hatte dunkle Flecken am unteren Rand.
»Ich such Haarspangen«, sagte eine Kundin.
»Im Regal um die Ecke, neben den Shampoos«, sagte die Verkäuferin. Sie hieß Karla Leimer, war zweiundvierzig und sehr schlank, mit einem schmalen, fast eingefallenen Gesicht und blonden, von rötlichen Strähnen durchzogenen Haaren, die sie mit einem weißen Seidentuch zusammengebunden hatte. Auf den ersten Blick wirkte sie fahrig, auf den zweiten nervös.
»Ich mach mir wirklich Sorgen«, sagte sie.
»Warum?«
Unabsichtlich – oder absichtlich, das war nicht zu erkennen – versperrte ihr Hauptkommissarin Sonja Feyerabend den Weg in ein Kabuff im hinteren Teil des mit Regalen vollgestellten Drogeriemarktes.
»Warum? Wieso fragen Sie so was? Warum. Weil er mein Mann ist. Weil er nicht nach Hause gekommen ist. Und zwar seit gestern nicht. Und das macht der sonst nie. Das hab ich alles Ihren Kollegen erzählt. Ich versteh gar nicht, was Sie hier suchen. Hier ist er bestimmt nicht.«
»Sind Sie sicher?« Die Hände in den Taschen ihres schwarzen Wollmantels, rührte Sonja sich nicht von der Stelle. Sie war einen Kopf größer als die Verkäuferin. Mit ihrer ledernen Schirmmütze und ihren breiten Schultern, die durch den gepolsterten Mantel noch betont wurden, sah sie aus wie eine Türsteherin, an der niemand ohne richtiges Losungswort vorbeikam.
»Bitte?« Mit flehendem Blick erwartete Karla Leimer Unterstützung von dem Kommissar, der, seit er hier war, noch kein Wort gesprochen hatte.
»Es kommt nicht so selten vor, dass Menschen sich dort verstecken, wo sie sich am besten auskennen«, sagte die einundvierzigjährige Ermittlerin. »Nämlich auf dem eigenen Grundstück oder bei Verwandten.«
»Verstecken.« Nachdem sie noch eine Weile erfolglos auf eine Reaktion des Kommissars gewartet hatte, drehte sie verärgert den Kopf von ihm weg. »Gute Frau: Mein Mann versteckt sich nicht, er ist verschwunden.«
»Ich würd gern irgendwann zahlen«, rief eine Kundin an der Kasse.
»Lassen Sie mich bitte vorbei«, sagte Karla Leimer zum Kommissar. »Ihren Namen hab ich jetzt vergessen.«
»Tabor Süden.«
»Vielleicht können Sie Ihre Kollegin mal fragen, warum sie mir so eigenartige Fragen stellt. Die gefallen mir nämlich nicht.« Sie drängte sich an Süden vorbei, und er roch kalten Zigarettenrauch.
Er sagte: »Sie tragen keinen Ehering.«
Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Dann schüttelte sie den Kopf und ging weiter zur Kasse.
Von einem Regal aus beobachtete die zweite Kundin die Szene. Süden machte einen Schritt auf sie zu. »Kennen Sie die Frau Leimer?«
Die Kundin, eine Frau um die sechzig in einem bunten Mantel, der aussah, als hätte sie ihn selbst gestrickt, streckte den Rücken. »Sie sind von der Polizei?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Süden.
»Aha.« Sie nickte.
Süden schwieg. Die Frau sah ihm herausfordernd in die Augen. Wenn Süden einmal angefangen hatte zu schweigen, hörte er so schnell nicht wieder damit auf.
Inzwischen hatte die andere Kundin den Drogeriemarkt verlassen. Neue Kunden kamen herein, ausschließlich Frauen, von denen jede dem stumm dastehenden, stämmigen Mann mit der schwarzen, an den Seiten geschnürten Lederhose, der Lederjacke über dem weißen Hemd und den schulterlangen Haaren einen Blick zuwarf, den sie kurz darauf aus einem anderen, besseren Winkel wiederholten.
Karla Leimer saß reglos an der Kasse. Eine Minute lang herrschte Schweigen, während weiter Schlagermusik und Werbeansagen aus dem Lautsprecher dröhnten.
»Dann schlage ich vor, wir gehen nach draußen«, sagte Sonja Feyerabend auf dem Weg zur Tür. Als sie an der Kasse vorüberkam, wies sie Karla mit dem Kopf an, ihr zu folgen.
Wortlos wandte Süden sich von der Frau im Wollmantel ab.
»Ich