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Das Gangsterbüro: Thriller
Das Gangsterbüro: Thriller
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Das Gangsterbüro: Thriller

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Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis!
Über den Dächern von Berlin hat sich der pensionierte Geheimdienst-Profi Malakoff behaglich eingerichtet. Leider bringt die Wende zahlreiche Unannehmlichkeiten mit sich, nicht zuletzt finanzieller Art. Und so ist der einstige IM "Anarchist" gezwungen, seine Tätigkeit zu privatisieren.
Gemeinsam mit Profis aus alten Tagen und entwurzelten Nachwuchstalenten gründet er ein Büro für illegale Ermittlungen. Der erste Auftrag gilt der Beschaffung eines politisch wertvollen rumänischen Gemäldes, das zuletzt kurz vor Ausbruch der Nelkenrevolution in Lissabon gesehen wurde.
Malakoff wittert das große Geld und bald schon sind nicht nur rumänische Kryptokommunisten und Royalisten, sondern auch Hongkong-Chinesen und portugiesische Ganoven eifrig dabei, zwischen Berlin, Paris und Lissabon ein dichtes Intrigen-Netz zu knüpfen, das nur noch mit Hilfe von Schusswaffen durchlöchert werden kann.
LanguageDeutsch
Release dateAug 5, 2015
ISBN9783960541738
Das Gangsterbüro: Thriller

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    Das Gangsterbüro - Robert Brack

    36

    TEIL 1

    Two doors down, there’s a barstool

    That knows me by name

    And we sit there together and wait for you

    (Dwight Yoakam: »Two doors down«)

    1

    »Zieh deine Uniform an!«

    »Aber Liebling, ich …«

    »Zieh sie an!«

    »Muss das wirklich sein?«

    »Tu, was ich sage.«

    »Ich kann das nicht …«

    »Los, mach schon!«

    »Also gut.«

    Der nicht mehr ganz junge, aber nach eigenem Urteil vielversprechendste Hauptmann der portugiesischen Armee schob die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Bis auf die vor vielen Jahren in Paris erstandenen Boxershorts mit einem verblichenen Vichy-Karomuster war er nackt. Einen Moment lang saß er mit gesenktem Kopf auf dem Bettrand und betrachtete seine bloßen Füße. Er stöhnte leise, als sie ihm mit einer Hand ganz leicht auf den stark behaarten Rücken schlug. Dann stand er auf.

    Für seine knapp 45 Jahre sah er noch ganz passabel aus. Zwar hatte er an den Hüften und am Bauch ein wenig zugelegt, aber sein regelmäßiges Jogging-Training hatte ihn trotz seiner leicht untersetzten Gestalt vor der frühzeitigen Verfettung bewahrt. Unschlüssig stand er neben dem Bett. Seine Uniform lag auf dem Boden. Er bückte sich nach seinem Unterhemd, nach den Socken und dem frisch gebügelten Armeehemd.

    »Soll ich auch die Strümpfe …«

    »Alles! Ich will auch, dass du deine Mütze trägst.«

    Der Hauptmann griff nach seiner goldenen Armbanduhr, die auf dem Nachtschränkchen lag.

    »Liebling, ich glaube, wir haben gar nicht genug Zeit …«

    »Du wolltest mich doch unbedingt sehen, oder?«

    »Ja, natürlich.«

    »Du hast die ganzen Wochen nur an mich gedacht.«

    »Aber ja.«

    »Na, also.«

    Er zog sich an. Nachdem er die Uniformjacke zugeknöpft hatte, setzte er sich auf den mit dunkelrotem Samt gepolsterten Empire-Stuhl und nahm sich die Socken und die Schuhe vor. Zwischendurch deutete er auf den Sektkübel, der auf einem Servierwagen vor dem Bett stand.

    »Möchtest du nicht schon einen Schluck, Liebling?«

    »Noch nicht, du weißt doch, dass ich hinterher immer Durst bekomme.«

    »Ja, natürlich.«

    Endlich hatte er die Schuhe zugebunden. Er richtete sich auf, stand gerade, beinahe militärisch.

    »Die Mütze.«

    »Ach ja.« Er blickte zerstreut um sich: »Wo ist sie denn?«

    »Du hast sie doch aufgehabt, als du hierher kamst, oder?«

    »Ja, ich glaube schon.«

    Auf seinem runden Gesicht zeigten sich zahllose Sorgenfalten.

    »Bist du sicher?«

    »Ich kann doch unmöglich ohne …«

    Er fuhr sich mit der rechten Hand über das schon ansatzweise ergraute Haar, das sie wenige Minuten vorher total durcheinandergebracht hatte. Unwillkürlich strich er es glatt. Sie lachte.

    »Los, mach schon, such deine Mütze!«

    Er suchte auf dem schmalen Sekretär vor dem fleckigen Spiegel, auf dem kleinen Tisch zwischen den breiten Sesseln, sogar darunter, sah auf der Kommode mit der Minibar nach, stieß beinahe den Servierwagen um und fluchte.

    »Verdammt, es ist viel zu dunkel hier. Und außerdem zu eng!«

    Das Zimmer war ungefähr 14 Quadratmeter groß, und es standen viel zu viele Möbel darin. Die Decke war über drei Meter hoch und trug auf diese Weise dazu bei, den klaustrophobischen Effekt zu verstärken. Vor dem hohen Fenster hingen schwere dunkelrote Vorhänge. Die einzige angeschaltete Lampe war die altmodische Messingfunzel über dem Bett.

    »Ich brauche Licht!«, rief der Hauptmann und riss mit großer Geste die Vorhänge auf. Es blieb trotzdem dunkel.

    Die Frau im Bett kicherte albern.

    Die hohen Fensterflügel waren mit zwei hölzernen Fensterläden verrammelt. Zornig zog er sie auf. Sie öffneten sich nach innen.

    Das grelle Licht der Nachmittagssonne durchflutete das kleinste Zimmer des Hotel Avenida Palace in Lissabon. Obwohl das Fenster geschlossen war, hörte man deutlich den Verkehr, der einige Stockwerke tiefer um den Praça dos Restauradores lärmte, hochtourig gefahrene Kleinwagenmotoren, quäkende Hupen, hysterische Bremsgeräusche.

    Der Hauptmann drehte sich um und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war verdammt warm in diesem Zimmer, aber für ein kühleres auf der anderen Seite des Hotels hätte er wesentlich mehr bezahlen müssen. Die Frau im Bett zog sich die Decke über den Kopf und kicherte weiter. Unter dem dünnen Stoff zeichnete sich ihr Körper ab. Kopf, Arme, Brüste, Bauch, Schenkel. Sie hatte die Beine gespreizt und bewegte sich. Zwischen den Beinen war etwas, das nicht dorthin gehörte. Mit einem lauten Seufzer stieß er sich von der Fensterbank ab, machte zwei Schritte Richtung Bett, zog die Decke von ihr weg und sah die Mütze in ihrem Schoß liegen.

    Sie lachte albern und rief: »Na los, zieh dir deine Mütze an!« Er wollte sich gerade auf das Bett knien, als es laut an der Tür klopfte. Verwirrt ließ er die Decke auf den Boden fallen und richtete sich auf.

    »Was ist los?«

    »Da sind sie schon«, murmelte er.

    »Bleib hier!«

    Er ging zur Tür, drehte sich um und sagte: »Deck dich zu.« Zwei Schritte durch den engen Vorraum und er war an der Tür. Er öffnete sie. Draußen standen zwei Pagen in Uniform und hielten ein großes Paket in den Händen. Sie sahen ihn fragend an.

    »Zu früh«, sagte er mehr zu sich selbst. Dann ließ er sie eintreten.

    Sie bauten sich vor dem Bett auf und heuchelten Desinteresse, angesichts der nackten, dunkelhaarigen Schönheit, die sich dort räkelte.

    Sie sah ihn zornig an: »Bist du verrückt? Was soll das?«

    Sie hob die Decke vom Boden auf und hüllte sich ein.

    »Ich dachte, du würdest es gerne bei dir haben.«

    Mühsam suchte er nach Kleingeld in seinen Hosentaschen. Die beiden Pagen lehnten das ein Meter fünfzig hohe Bild an den Sekretär, der gegenüber dem Bett stand, und nahmen das Trinkgeld entgegen. Nach einem weiteren Blick auf die Frau im Bett stolperten sie nach draußen.

    »Du Idiot«, sagte sie, »morgen stehen wir in der Zeitung.«

    »Freust du dich nicht?«, fragte er verunsichert.

    »Dass ich morgen in der Zeitung stehe? Du machst mir Spaß.«

    Er setzte sich auf den Rand des Bettes und beobachtete, wie die Decke wieder von ihren Schultern rutschte. Mit der linken Hand griff er nach ihren Brüsten, um sie zu streicheln. »Ich liebe dich«, sagte er.

    »Du Idiot.«

    Sie zog die Mütze unter der Bettdecke hervor und warf sie gegen das in braunes Packpapier eingewickelte Bild.

    »Fehlt nur noch, dass die Polizei jetzt hier reinstürmt. Wieso hast du das Bild herbringen lassen?«

    »Es konnte doch nicht in diesem feuchten Keller bleiben.«

    »Du bist verrückt. Hätte das nicht Zeit gehabt?«

    »Wir haben Jahre gebraucht, um es zu bekommen. Wir sollten jetzt nicht nachlässig werden.«

    »Ich habe Jahre gebraucht. Du hast gar nichts dazu getan.«

    »Wir haben es gemeinsam … es war mein Plan.«

    »Ach ja? Wer hat denn diesen alten Knacker bearbeitet, du vielleicht?«

    »Ich war es, der ihn kennengelernt hat.«

    »Ja, ja, du hast mit ihm Kaffee getrunken. Aber ich musste ihn im Bett bei Laune halten. Weißt du überhaupt, wie das ist, mit einem 70-Jährigen, kannst du dir das vorstellen? Ein Invalide!«

    »Hör auf.«

    »Ja, hör auf. Wahrscheinlich wird die ganze Sache auffliegen und wir landen beide im Knast.«

    »Tun wir nicht, weil ich nämlich alles gut organisiert habe.« »Irgendein Erbe wird auftauchen und uns die Hölle heißmachen.«

    »Es gibt keine Erben. Der Mann war allein. Ich habe alle Akten durchgesehen, die es gab. Er ist ganz allein nach Lissabon gekommen und hat vom Verkauf seiner Bilder gelebt. Nur dieses eine ist übrig geblieben, weil er es nicht weggeben wollte. Der einzige Kontakt zu seiner Heimat war dieser Schriftsteller, der vor zwei Jahren gestorben ist. Seitdem hat er niemanden gesehen außer uns und seiner Haushälterin. Wer soll uns also die Hölle heißmachen?«

    »Ich traue deinem Organisationstalent nicht«, sagte sie schmollend. »Du hast nicht mal deine Mütze wiedergefunden.«

    »Wo ist sie überhaupt?«

    Sie suchten beide den Boden neben dem Bett ab.

    »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist sie unters Bett gerutscht«, sagte sie.

    Er kniete sich nieder und suchte mit den Händen unterm Bett. Alles, was er zutage förderte, war eine Menge Staub. Er musste husten. Als er sich aufrichtete, saß sie mit angezogenen Beinen auf dem Bett und hatte die Mütze auf dem Kopf. Sie lachte laut und aufreizend, streckte ihm die Arme entgegen und sagte:

    »Los, Soldat, komm jetzt …«

    Als er sich über sie beugen wollte, donnerten Fäuste gegen die Tür und eine herrische Stimme rief: »Aufmachen!«

    Sie sahen sich erschrocken an.

    »Was ist das?«, fragte sie. »Noch so eine Überraschung?«

    »Nein, das heißt …«, stammelte er, »… die Blumen?«

    Die Fäuste donnerten erneut gegen die Tür.

    »Ist das der Blumenhändler?«, fragte sie hysterisch. »Brechen die neuerdings in Hotelzimmer ein?«

    »Ich weiß nicht, was das ist.«

    »Du hast alles organisiert, wie? Draußen stehen die Bullen, sie werden uns verhaften, wir werden uns nie mehr wiedersehen, weil du dieses verdammte Bild unbedingt hierhaben wolltest. Das ist ja großartig, wie du das alles organisiert hast.«

    Wieder krachten Fäuste gegen die Tür.

    »Das gibt’s doch gar nicht«, sagte er.

    »Und was nun? Willst du warten, bis sie die Tür eingetreten haben? Wo ist deine Pistole?«

    »Was?«

    »Ich liege hier nackt herum und die treten die Tür ein. Wo ist deine gottverdammte Pistole?«

    Die Pistole steckte im Halfter und das lag auf dem Tisch. Der Hauptmann stand zitternd auf. Jetzt schlug niemand mehr gegen die Tür, aber man hörte undeutliche Stimmen. Er öffnete das Halfter, zog die Pistole raus und entsicherte sie. Dann ging er in den Vorraum und horchte an der Tür. Jemand redete, aber er verstand kein Wort.

    »Wer ist da draußen?«, fragte er mit quäkender Stimme.

    Zwei Stimmen antworteten gleichzeitig: »Wir bringen die Blumen!« Dann lachten sie albern.

    »Was ist los?«, rief die Frau vom Bett aus.

    »Blumen, sie bringen die Blumen«, sagte der Hauptmann ungläubig.

    »Mach die Tür auf, mein Liebling!«, sang eine Stimme draußen vor der Tür.

    »Mach nicht auf!«, rief die Frau. »Die bringen uns um.«

    Der Hauptmann drehte mit der linken Hand umständlich den Schlüssel im Schloss um, in der rechten hielt er die schussbereite Pistole. Er zog die Tür nach innen auf und sah draußen zwei Feldwebel stehen, die sich ganz offensichtlich von seinem Rang nicht beeindrucken ließen.

    »Was soll das hier mit diesem Lärm?«, fragte er umständlich. Statt einer Antwort hielt ihm der eine der beiden einen riesigen Blumenstrauß unter die Nase.

    »Das sollen wir hier abgeben«, sagte er.

    »Es wird das Letzte sein, was wir für Sie tun können«, ergänzte der andere schnippisch. Beide grinsten ihn frech an und drängten ihm den Blumenstrauß auf, den der Hauptmann mühsam mit der freien linken Hand in Empfang nahm, während er gleichzeitig darauf wartete, sich mit der Pistole verteidigen zu müssen.

    Doch die beiden Soldaten traten zurück, salutierten nachlässig mit verächtlichem Gesichtsausdruck, drehten sich um und gingen durch den langen Korridor davon.

    Der Hauptmann schob die Tür vorsichtig mit dem Fuß zu und trat zurück ins Zimmer. Er legte den riesigen Strauß aufs Bett und sah in das angsterfüllte Gesicht seiner Geliebten.

    Sie versuchte zu lächeln, aber es kam nur eine Grimasse zustande.

    »Also doch nur Blumen?«, stotterte sie, und ihre Hand tastete über das Bettlaken nach seiner, die noch immer die Pistole hielt. »Für mich?«

    »Ja«, sagte er finster, »nur Blumen. Aber es stimmt trotzdem was nicht.«

    »Wieso? Die sind doch hübsch …«

    »Ich hatte Rosen bestellt, aber das hier sind Nelken, rote Nelken.«

    Auf diese Weise erfuhren Carlos Coelho, der nicht mehr ganz junge, aber nach eigenem Urteil vielversprechendste Hauptmann der portugiesischen Armee, und seine Geliebte Carmen Cassunto, dass in Portugal die Nelkenrevolution ausgebrochen war. Zwei Tage später, am 27. April 1974, waren sie bereits ins französische Exil abgereist.

    Das teure Gemälde hatten sie gar nicht erst auspacken müssen.

    2

    Der Heilige trug einen Mantel aus Spinnweben. Und genau das war der Grund, warum die Bürokraten ihn aus dem Verkehr ziehen wollten. Die kleine Holzfigur stand auf einem roh gezimmerten Regal direkt über dem seit 50 Jahren dort provisorisch eingebauten Holzkohlegrill und verursachte laut Einschätzung einer Beamtin des Gesundheitsamtes »unhygienische Bedingungen«. Der Holzkohlegrill und das Regal mit den verstaubten Weinflaschen gehörten zur Tasca von Senhor Pereira, die den inoffiziellen Namen »Höhle des heiligen Lüstlings« trug. Die Existenz dieser kleinen Eckkneipe im Lissaboner Stadtteil Bairro Alto war genauso inoffiziell wie der Name, denn eigentlich sollte sie bereits seit Monaten geschlossen sein, weil ihre Einrichtung den Normen der Europäischen Union widersprach.

    Senhor Pereira, den seine Kunden einfach nur Nuno nannten, weil sie alle seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten mit ihm befreundet waren, kannte diese Normen nicht. Sie waren ihm sogar scheißegal. Er hatte diese Tasca im Alter von 29 Jahren übernommen und sich fest vorgenommen, sie noch weitere 50 Jahre zu führen, auch wenn ihm bis dahin sein letzter übrig gebliebener Schneidezahn ausfallen würde.

    Aber nun war diese Beamtin bereits zum zweiten Mal hier aufgekreuzt. Das war ungeheuerlich, denn bis dahin war es keiner Frau erlaubt gewesen, diesen Verein männlicher Müßiggänger zu stören. Sie hatte noch nicht mal einen Rock getragen, sondern Jeans. Und rumkommandiert hatte sie, dass den alten Männern, die gerade bei ihrem Frühstückswein saßen, hören und sehen verging. Es fing damit an, dass sie den mit Kippen übersäten Steinfußboden bemängelte, dann darauf hinwies, dass ein paar Kacheln von den Wänden gefallen waren und dahinter ein bisschen morsches Mauerwerk zu sehen war. Die Pin-up-Girls auf den Kalenderbildern und Fotos, die über den ganzen Raum verteilt waren, hatte sie mit verkniffenem Mund gemustert. Als sie den Heiligen sah, dem ein findiger Bastler und Stammkunde ein Geschlechtsteil verpasst hatte, das ziemlich keck in die Höhe ragte, lachte sie hämisch. Dann erklärte sie das Schnapsregal für unsachgemäß angebracht und forderte die sofortige Beseitigung der beinahe hundert Jahre alten Spinnweben, die überall dekorativ herumhingen, natürlich auch über dem Grill und in den Ecken bei den uralten Weinfässern, die angeblich ebenfalls irgendeiner neuen Norm widersprachen. Abgesehen davon, fügte sie hinzu, sei es zwar nicht ihr Zuständigkeitsbereich, aber die Weingläser ohne Eichstrich könne Nuno ebenfalls vergessen.

    Was er mit einem Eichstrich solle, hatte Nuno gefragt, wo er doch die Gläser immer bis zum Rand fülle. Das sei eben neuerdings so üblich in Europa, hatte sie schnippisch geantwortet. Dann stellte sie ein letztes Ultimatum: In drei Tagen sollten die Spinnweben verschwunden, der Grill beseitigt und alles blitzblank geputzt sein, sonst würde die Tasca geschlossen, und zwar nicht vorübergehend, sondern für immer. Anschließend drehte sie sich auf den hochhackigen Absätzen um und stolzierte nach draußen, wo sie in einen nagelneuen Fiat Uno stieg, der knallrot in der Frühlingssonne glänzte.

    »Dann mach ich eben einen Privatklub auf«, murmelte Nuno achselzuckend und setzte sich zu seinen Freunden an den Tisch, die gerade begonnen hatten, sich über bestimmte, in Jeans eingezwängte weibliche Körperteile zu unterhalten.

    Ein einziger Gast nahm nicht an dieser Unterhaltung teil, weil er nicht dazugehörte und außerdem viel jünger war. Und abgesehen davon, dass er die junge Beamtin eigentlich ganz hübsch und beinahe sympathisch gefunden hatte, war er nicht mal Portugiese.

    Der Mann, der sich seit fast fünf Jahren Anton Ruger nannte und einen vorbildlich gefälschten deutschen Pass bei sich trug, hatte diese Tasca nur zufällig betreten. Er war aus dem 20 Kilometer entfernten Sintra mit dem Zug angereist, um sich mit Zeitungen einzudecken und einen Geschäftsfreund zu besuchen. Die englischen, französischen und deutschsprachigen Zeitungen lagen vor ihm auf der verkratzten Marmorplatte. Daneben ein Glas Vinho Verde, das er noch nicht angerührt hatte. Er war sich nicht sicher, ob er es wirklich austrinken sollte, schließlich war es noch früh am Tag. Andererseits war er nervös. So nervös, dass sogar sein Magen rumorte. Er schob es auf den strengen Geruch der Fischsuppe, die in einem Topf auf einer verrosteten einzelnen Herdplatte neben dem Grill vor sich hin brodelte. Darin schien sich so viel Knoblauch zu befinden, dass man eine ganze Kompanie damit hätte vergiften können. Aber es war nicht wirklich der Geruch dieser Suppe, der ihm zu schaffen machte.

    Er trug eine Sonnenbrille, obwohl hier in diesem kühlen Raum ein eher diffuses Licht herrschte. Außerdem einen leicht zerknitterten naturweißen Leinenanzug, der eher praktisch als elegant wirkte, ein dezentes dunkelblaues Sommerhemd, gleichfarbige Socken und braun-weiße italienische Sommerschuhe. In seinem Ausweis war das Geburtsjahr 1954 angegeben. Also war er jetzt »offiziell« 39 Jahre alt. Er trug sein Haar kurzgeschnitten und fragte sich jeden Morgen, was er mehr verabscheuen sollte, die überflüssigen Locken oder die kürzlich aufgetauchten grauen Strähnen. Er war einen Meter achtzig groß und wunderte sich, dass er noch nicht fett geworden war, seit er mit dem regelmäßigen Trainieren aufgehört hatte. Sein glattrasiertes Gesicht war breit, beinahe quadratisch, und die kleinen Narben kamen nicht davon, dass er sich jeden Morgen nass rasierte. Sie erinnerten ihn immer wieder daran, dass er in einem Land aufgewachsen war, wo man Stacheldraht benutzte, um Dinge und Menschen voneinander zu trennen.

    Auf der Titelseite der »Süddeutschen Zeitung« las er einen Bericht über die Verleihung irgendwelcher Orden an deutsche Bundeswehrsoldaten. Sie hatten sogar ein Bild dazu abgedruckt, auf dem der Bundespräsident zu sehen war, wie er einem der Soldaten die Hand schüttelte. Sie hätten sich im humanitären Einsatz in Somalia bewährt, hieß es. Ruger kannte das Gesicht des einen Soldaten aus dem Fernsehen. In der Reportage war gezeigt worden, wie der Soldat mit einigen Kameraden den Kindern von Belet Huen ein Lied beigebracht hatte: »Hänschen klein«.

    Ziemlich albern, mit einer Sonnenbrille in einer solchen Kaschemme Zeitung lesen zu wollen. Ruger nahm die Brille ab. Durch die offenstehende Tür blickte er nach draußen. Die Tasca lag am Rand eines kleinen Platzes, in dessen Mitte ein leerer Springbrunnen stand. Davor gab es eine freie Fläche, wo die Männer täglich »Chinquilho« spielten, ein Spiel, bei dem es darauf ankommt, Metallscheiben möglichst dicht neben einen in den Boden geschlagenen Holzstock zu werfen.

    Die Männer in der Tasca sprachen jetzt von weiblichen Körperteilen im Allgemeinen. Jemand legte ein Kartenspiel auf den Tisch. Nuno stand auf und schaltete den Fernseher ein, der hoch oben in der Ecke neben dem Eingang auf einem Regalbrett stand, auf dem außerdem ein paar vertrocknete Zwiebeln und Maiskolben herumlagen. Die anderen begannen »Sueca« zu spielen. Eine Weile sprachen sie von schwedischen Blondinen, die sie fälschlicherweise als heißblütig einschätzten, dann versickerte das Gespräch und man hörte nur noch das Brodeln des Suppentopfes und das Geschrei der Kinder, die drüben im Park herumtobten.

    Die Kinder rannten um den leeren Brunnen herum, auf dessen Rand zwei Männer saßen. Sie ließen sich offenbar gelangweilt von der Sonne bescheinen. Der eine, ein schmächtiger Kerl mit einem länglichen Gesicht, rauchte eine Zigarette. Er hatte Bluejeans und eine schwarze Lederjacke an. Der andere war stämmiger gebaut, mit zu kurzen Beinen, und hatte die Hände in einer beigen Bundhose mit Schlag vergraben. Darüber trug er ein zu enges weißes T-Shirt mit dünnen blauen Querstreifen.

    Ruger hatte die beiden noch nie gesehen. Jedenfalls nicht vor heute Morgen, als er plötzlich bemerkt hatte, wie sie ihm aus dem Zug und durch den Bahnhof gefolgt waren. Als er aus dem Rossio-Bahnhof trat, war er stehen geblieben, um sie zu beobachten. Offenbar wussten sie nicht genau, was sie tun sollten. Blieben einfach stehen und glotzten blöd zurück. Er hatte überlegt, ob es sich lohnte, diese beiden Idioten überhaupt ernst zu nehmen, sich dann aber an den Mann erinnert, der ihn vor einigen Tagen vor seiner Pension in Sintra abgefangen hatte. Wenn er nicht so überraschend schnell reagiert hätte, wäre er zusammengeschlagen worden. Er hatte sich selbst gewundert, wie gut es ihm nach all den Jahren noch gelang, die Faustschläge zu parieren. Der Kerl lag auf dem Boden, ehe er seinen Schlagring richtig benutzen konnte. Reine Glückssache.

    Jetzt also noch zwei andere. Wie viele würden wohl dazukommen? Und von wem waren sie geschickt worden? Von jemandem mit vielen Freunden offenbar.

    Er hingegen war allein. So gut wie. Ihm lief es kalt den Rücken runter.

    Nuno stellte ungefragt einen Teller mit Suppe auf seinen Tisch.

    »Eine Spende vom heiligen Lüstling«, sagte er, ohne auf eine Antwort zu warten, und ging zur Tür.

    Aus der Nähe betrachtet sah die Suppe gar nicht übel aus. Wenn man Stockfisch mag. Ruger nahm den Löffel in die Hand und probierte. Knoblauchsuppe mit Stockfisch. Höllisch scharf. Tintenfischstücke schwammen auch darin herum.

    »Du bist noch jung, du brauchst das«, rief einer der Kartenspieler ihm zu. »Du brauchst Kraft, du musst uns vertreten, wenn die Beamtin wieder zurückkommt.«

    Die alten Männer lachten.

    Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Suppe zu essen. Als er den Teller leer hatte, fühlte er sich besser. Er trank den Vinho Verde aus und blickte wieder nach draußen. Der alte Nuno unterhielt sich auf der anderen Straßenseite mit den beiden Männern, die vom Brunnen gewollt gelangweilt herübergeschlendert waren. Der in der Lederjacke redete, der andere hatte noch immer die Hände in den Hosentaschen und stierte dumpf herüber. Der Wirt nahm einen Zettel entgegen, nickte und kam mit kleinen Trippelschritten über die Straße zurückgelaufen.

    Die beiden Männer verschwanden aus Rugers Blickfeld.

    Nuno trat zu ihm an den Tisch und überreichte ihm den einmal gefalteten Zettel. Dann nahm er wortlos den Teller und das Glas vom Tisch und schlurfte hinter die Theke. Ruger faltete den Zettel auseinander. Es stand nur eine Telefonnummer darauf. Eine Nummer, die er gut kannte.

    Er drehte sich um und sah, wie der alte Wirt mit dem frisch gefüllten Glas in der Hand zu ihm zurückschlurfte. Der Wein schwappte über den Glasrand auf die Greisenhand und tropfte zu Boden.

    »Gibt’s hier ein Telefon?«

    Der Alte schüttelte mit dem Kopf: »Hat’s hier noch nie gegeben. Trink! Das macht wach.«

    Er stellte das Glas auf den Tisch und blieb einfach stehen. Leicht gebeugt, abwesend, als ob er mit einem Schlag eingeschlafen wäre.

    Die anderen Männer spielten weiter, der Fernseher plapperte vor sich hin und zeigte undeutliche vernebelte Bilder, draußen immer noch Kinderlärm. Ruger hatte das Gefühl, dass plötzlich alles in Zeitlupe ablief. Und ihm kam der blödsinnige Gedanke, es könne an der Suppe liegen. Er griff nach dem Glas, verschüttete seinerseits etwas Wein auf Tisch und Hosenbein und trank es in einem langen konzentrierten Zug leer. Dann stand er auf und zog seine Brieftasche aus der Innentasche des Jacketts. Er sah den Wirt fragend an, der ihn aus dunkelbraunen Augen unter buschigen weißen Brauen regungslos anstarrte.

    Es dauerte eine Weile, bis Nuno sich zu einer Handbewegung entschließen konnte. Er deutete auf die kleine Holzstatue auf dem Tresen: »Der Heilige kassiert heute.«

    »Der Hurenheilige nimmt gern dein Geld«, rief einer der Kartenspieler.

    Und damit schien der Bann gebrochen zu sein. Alles hatte plötzlich wieder seine normale Geschwindigkeit.

    Ruger ging zum Tresen und legte die Escudo-Scheine neben die Holzstatue. Die Kartenspieler lachten.

    »Vorsicht mit dem Ding da!«

    Ruger warf einen letzten Blick auf die zahllosen Spinnweben und die vergilbten Pin-up-Fotos, nickte dem Wirt zu und verließ das Lokal.

    Draußen war es wärmer und heller, als er erwartet hatte. Er zog die Sonnenbrille wieder auf und blickte sich um. Von den beiden Männern war nichts mehr zu sehen. Er sah auf seine goldene Schweizer Armbanduhr, die noch teurer

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