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Die flüsternde Zeit: Rhein-Main-Roman
Die flüsternde Zeit: Rhein-Main-Roman
Die flüsternde Zeit: Rhein-Main-Roman
Ebook273 pages3 hours

Die flüsternde Zeit: Rhein-Main-Roman

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About this ebook

Ursula Berkum, 1935 in Frankfurt am Main geboren, wächst in Weilburg a. d. Lahn auf, erlebt die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs, muss danach ins Waisenhaus
nach Bad Homburg, verbringt ihre Schuljahre in Königstein und studiert schließlich in Frankfurt am
Main Medizin. Almuth Link, die ihr Talent zum Schreiben einer inzwischen
bekannten Krimi-Autorin und Tochter vererbt hat, erzählt einfühlsam aus der Vergangenheit einer
fiktiven Biografie, die für viele Angehörige dieser Generation charakteristisch ist: die Last der Kriegsjahre,
familiäre Tragödien und Verluste, die prägende Freundschaft mit einer jüdischen Familie, die Liebe zu
ihrem älteren Bruder. In den 60er Jahren, die Studentenrevolte nimmt allmählich an Fahrt auf, trifft Ursula
Berkum, Oberärztin an einer Frankfurter Klinik, unvermutet ihren jüdischen Freund aus Kinderzeiten wieder
. und eine unvollendete Liebesgeschichte beginnt von Neuem. Ein lesenswerter Rhein-Main-Roman im zeitgeschichtlichen Kontext.
LanguageDeutsch
Release dateJul 29, 2013
ISBN9783955420659
Die flüsternde Zeit: Rhein-Main-Roman

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    Die flüsternde Zeit - Almuth Link

    Almuth Link

    Die flüsternde Zeit

    Roman

    Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

    © 2013 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

    Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag

    Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag

    Umschlagabbildung: © INFINITY - Fotolia.com

    eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt

    ISBN 978-3-95542-065-9

    Mater Rhabana zum Gedenken

    1

    E

    ine alte Frau trippelte auf mich zu und hielt mir ihre nackte Babypuppe entgegen. In ihrer Brust sei heute zu wenig Milch für den Säugling gewesen, schrie sie mit der schrillen Stimme eines Vogels, der sein Nest verteidigt. Dazu schüttelte sie den Kopf, so heftig, als müsste sie den spärlichen Rest ihrer weißen Haarsträhnen abwerfen.

    Ich wich ihr in einem weiten Bogen aus, wollte ihre laute Verwirrtheit nicht ertragen, schon gar nicht hier. Sie stieß ihre Puppe wie einen Dolch in die Luft und trippelte weiter.

    Der Alte Friedhof war vor mehr als einem halben Jahrhundert endgültig eingeebnet worden, man hatte eine Kirche und ein Pflegeheim darauf gebaut. Aber in dem jetzigen Park dahinter standen noch die hohen Buchen von damals, über die nun ein weiteres Menschenleben gegangen ist – auch mein Leben.

    Sie werden die verwitterten Grabsteine und Platten zertrümmert und entsorgt haben. Mir wurde schwindelig, meine Beine wollten nicht gehorchen, fühlten sich wie schwere Gewichte an. Aber eine bestimmte Stelle in diesem Park musste ich unbedingt finden, oder wenigs­tens ahnen, wo sie gewesen sein könnte; die Stelle, wo ich so oft im Gras bei meiner steinernen Eva gesessen hatte. Ich fand die Stelle, ungefähr.

    Eine Bank stand jetzt da, „gestiftet von den Stadtwerken". Daneben ein grüner Papierkorb aus Plastik, bis zum Rand angefüllt mit Pappbechern, Zeitschriften und leeren Zigarettenschachteln.

    Ich war allein, setzte mich nach kurzem Zögern hin. Vielleicht würde es mir gelingen, mich zu beruhigen. Über mir die hohen Baumkronen rauschten gleichmäßig und leise, wie damals, es waren ja dieselben geblieben. Und von irgendwoher wehte auch wieder der starke Duft von Jasmin. Ein Duft, nach dem ich mir bis heute meine Seifen und Parfums aussuche. Erinnerung an Weilburg, wie lange nun schon.

    Ein Klassentreffen meines Jahrganges 1935 hat mich hierher geführt, zunächst zum gemeinsamen Mittagessen. Weil die meis­ten von uns nur während der ersten vier Volksschuljahre zu dieser Klasse gehört hatten, war es nur noch ein kleiner Kreis, der sich im gemütlichen „Café Pechan" hoch über der Lahn zusammenfand. Und selbst für die wenigen hatte es den Initiator des Treffens viel Mühe gekostet, nach sechsundsechzig Jahren ihre Adressen ausfindig zu machen.

    Natürlich hat keiner mehr den anderen erkannt, wir standen uns wie Fremde gegenüber, fremd und schon recht alt. Sollten uns aber duzen. „Ich hieß damals Ursula Berkum, stellte ich mich vor, „vom Hauptlehrer bin ich Udrei genannt worden. Gesessen hab ich neben der Juliane Colpi.

    An Juliane erinnerten sich alle. Der Schock damals, als sie am 29. Juni 1942 mitten aus der Schulstunde von Gestapo-Leuten abgeholt wurde, hatte sich tief in die Gedächtnisse eingegraben. Und dann sprachen wir nicht über unsere einzelnen Schicksale, wie eigentlich bei Klassentreffen üblich, sondern ausschließlich über das, was damals mit Juliane, unserer jüdischen Mitschülerin, passiert war.

    Abends wollten wir uns wieder zusammenfinden. Ich hatte also nachmittags genügend Zeit, nach der Stelle meiner kleinen Eva-Grabplatte zu suchen und auf der Bank der Stadtwerke meinen Gedanken nachzuhängen. Verwirrenden Gedanken, die sich in dauernder Wiederholung im Kreise drehten und schnell anfingen, mich zu peinigen. Ich packte sie energisch zur Seite und lief hinunter zur Lahn, an der Uferstraße entlang und wieder zurück, wohl auf der Flucht vor mir selbst.

    Den Abend leitete unser Initiator, Karlheinz Böck, mit einer Rede ein. Wir „Neunzehnhundertfünfunddreißiger seien, so das Urteil der jüngeren Generationen, ohne eigenes Profil, eigentlich ohne erkennbares eigenes Gesicht. In der Nazizeit noch Kinder, hätten wir durch das Geflüstere der Erwachsenen vieles geahnt, manches auch bemerkt, nichts aber wirklich gewusst. In der Nachkriegszeit ja erst Heranwachsende, hätten wir ebenfalls nichts richtig gewusst, zum Beispiel nicht, dass einige – oder viele? – der ehemaligen Nazi-Bonzen sich inzwischen schon wieder in hohe Staatsstellen katapultiert hatten. Und was den Wiederaufbau beträfe, den hätten nicht wir, sondern unsere Eltern gestemmt. Als eine stets den eigentlichen Leistungen der Zeit hinterhergelaufene Generation würden wir eingestuft, irgendwie ein bisschen bedeutungslos und „dazwischen, wie gesagt, ohne Profil!

    Im Gespräch danach tauchten die immer gleichen Fragen auf, von denen wir wussten, dass Kinder und Enkel sie uns heute stellen. Für jeden von uns ähnlich erlebt und ähnlich beantwortet. „Habt ihr denn von dem Schicksal der Juden damals nichts gemerkt? Und wenn, warum sind denn eure Eltern nicht auf die Straße gegangen, so wie heute, als Protestbewegung zum Beispiel!"

    „Protestbewegung? In einer Diktatur?"

    Und: „Es konnte doch gar nicht ausbleiben, dass ihr etwas gemerkt haben müsst, auch schon als Kinder! Wenn Erwachsene sich fast nur noch im Flüsterton unterhielten, wenn jüdischen Familien von ihren Freunden dringend angeraten wurde, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Wenn sie plötzlich den Judenstern an ihren Jacken trugen. Wer kann denn behaupten, nichts gemerkt zu haben? Jeder musste doch gespürt haben, dass Gefahr im Verzug war, natürlich auch ihr Kinder, Gefahr für die jüdischen Menschen in eurer Mitte. Sonst hätte ja niemand zu flüstern brauchen! Warum habt ihr denn gar nichts unternommen?"

    „Weil wir KINDER waren, erstens, und weil Widerstand unserer Eltern mit dem Leben bezahlt wurde, deshalb. Weil die Ideologie der Nazis einen Teil des Volkes durchsetzt hatte wie Schimmel, den man nicht überall sieht, der aber trotzdem da ist, der gefährlich dicht unter der Decke auf der Lauer liegt."

    „Und warum gab es eine so hirnverbrannte Ideologie?"

    „Weil es zu allen Zeiten Dummheit, Fanatismus und Grausamkeit gibt, das Hirnverbrannte, auch heute noch."

    Wir redeten bis zwei Uhr nachts, die privat und in der Arbeit erlebten Dialoge mit denen durchspielend, die lange nach uns auf die Welt gekommen waren und alles nur aus den Geschichtsbüchern wissen.

    Immer wieder wurde Juliane erwähnt und ihr älterer Bruder Simon, der als Einziger seiner Familie mit dem Leben davongekommen war. Der später meine große Liebe wurde. Das habe ich ihnen aber nicht erzählt.

    Um halb drei lief ich dann durch die warme Juni-Nacht in mein Hotel, reichlich überdreht und schon wieder von einer Erinnerung eingeholt. Auf dieser Straße, der Frankfurter Straße, etwa hundert Meter vor dem Hotel (das es damals aber noch nicht gab), musste es gewesen sein, dass ich als Kind, abends von irgendeinem Kindergeburtstag kommend, eine laut hechelnde, offenbar angefahrene Katze neben dem Rinnstein entdeckte. Ich nahm sie hoch und schleppte sie nach Hause. Unsere Haushaltshilfe, sie hieß Miesi, die sich am liebsten ein Hakenkreuz auf die Brust genäht hätte, fing sofort zu lamentieren an. „Katzen haben in unserem Haus nichts zu suchen, Katzen nicht und eure Juden-Freunde auch nicht!"

    „Das ist nicht I h r Haus, ich verbitte mir solche Redensarten ein für allemal, schrie ihr meine Mutter von der Kellertreppe aus zu, „das ist unerträglich!

    „Mal sehen, wer hier am Schluss regiert!", nuschelte Miesi und verschwand in der Küche.

    Ich legte die hübsche, grauweiße Katze in mein Bett und beriet mit Mama und meinem Bruder, ob es irgendwo noch einen Tierarzt gab, der nicht als Soldat eingezogen war. Während wir noch überlegten, lief ein kurzes Zittern durch ihren Körper, sie streckte sich und hörte zu atmen auf. „Wenigstens ist sie in einem warmen Bett gestorben, tröstete mich Johannes, „wir legen sie jetzt in einen Korb und morgen früh buddel ich ihr ein tolles Grab, vielleicht hinten neben dem Schwimmbecken. Mein großer Bruder – ich liebte ihn sehr, und das gilt heute noch. Morgen werde ich ihn ganz bestimmt anrufen.

    Mit dieser Erinnerung an die Katze hatte ich mein Hotelzimmer erreicht. An Schlaf war nicht zu denken. Die schöne, sehr reichhaltige Bar im Keller hatte längst geschlossen, sonst hätte ich sie gerne noch aufgesucht. Also nahm ich mir aus dem Zimmerkühlschrank ein Fläschchen Sekt und setzte mich draußen auf meinen kleinen Balkon. Der Alkoholkonsum heute war ohnehin schon über das normale Maß hinausgegangen, da kam es auf ein Glas Sekt schon nicht mehr an.

    Vielleicht hätte ich das Klassentreffen absagen sollen. Nach so vielen Jahren zurückzukehren in die Kleinstadt der Kindheit – dieser Kindheit – hatte etwas von einer leichtsinnigen Mutprobe. Ob ich sie bestanden habe heute, ist eine Frage der Sicht. Weggelaufen bin ich nicht. Aber ich habe mir mit Alkohol geholfen.

    Vom Balkon aus konnte ich die Baumkronen meines Alten Friedhofs sehen. Sommernächte sind ja hell.

    Einige Hausdächer kamen mir noch bekannt vor. Das Stadtbild hatte sich hier gar nicht so sehr verändert, war nur durch neue, geschickt integrierte Häuser etwas dichter geworden. Mein Hotel gefiel mir gut, hatte gemütliche Zimmer, und man wurde freundlich und zuvorkommend behandelt.

    Morgen wollte ich endlich mein Elternhaus ansteuern. Die Gedanken daran ließen sich zunächst noch einigermaßen in Ordnung halten. Erst allmählich, durch die einzelnen Etappen der Erinnerungen aufgebracht, gerieten sie in Bewegung und fielen schließlich so ungebremst übereinander her, dass ich die Waffen strecken musste und den chaotischen Wirbel hinnahm. Ich hatte ja auch gegen den Alkohol anzukämpfen!

    Zum Glück wurde ich irgendwann dann doch müde. Ich ließ alles auf dem Balkon stehen und liegen, legte mich in Kleidern auf mein Bett und schlief sofort ein.

    Dass ich sehr früh schon wieder aufwachte, lag wahrscheinlich an dem lauten Vogelgezwitscher und an der Helligkeit des Junimorgens. Ich hatte in der Nacht natürlich vergessen, die Jalousien herunterzulassen.

    Duschen, anziehen und auf den Weg machen. Damit würde ich ohne lange Vorlaufzeit mich selbst überrumpeln und mein schwieriges Vorhaben hinter mich bringen.

    Eine halbe Stunde später, ich hatte mich zur Eile angetrieben, lief ich schon durch das noch schlafende Städtchen die steile Frankfurter Straße hoch.

    Der anfängliche Schwung ließ recht bald nach, meine Schritte wurden schwerfälliger. Warum tat ich mir das überhaupt an? Andererseits, es gab doch auch schöne Erinnerungen! Denk einfach nur an die schönen, würde mein Bruder Johannes sagen, die anderen entsorgst du auf der Müllkippe!

    Ach, Johannes …

    Auf einmal stehe ich davor, auf der rechten Straßenseite vor einem niedrigen, gepflegten Jägerzaun.

    Und starre auf das Haus.

    Zu meiner Verwunderung nehme ich meine Eindrücke nicht nacheinander, sondern gleichzeitig wahr, so, als hätte ich ein Bild geknipst. Aber das Bild hat Fehler, die Dinge darauf überblenden sich, widersprechen sich auch und lassen keine eindeutigen Schlüsse zu. Sie wirken vertraut und fremd, freundlich und bösartig, warm und eiskalt, weit entfernt und ganz nah. Das Haus ist ein Behälter, so vollgefüllt, dass er fast platzt, so leer, dass er fast in sich zusammenfällt. Und das ganze Bild ist ohne den leisesten Anflug von Versöhnlichkeit.

    Ich versuche das verkorkste Bild zu reparieren. Es gelingt mir sogar. Indem ich mir selber nur das erzähle, hörbar erzähle, was ich sehe, nicht was ich fühle.

    Also: „Das Haus ist jetzt weiß gestrichen. Die breite Eingangstreppe ist nicht mehr grau, sondern blau. Die unteren Fens­ter hat man schmiedeeisern vergittert. Die drei Fenster von Johannes’ und von meinem Zimmer sind zu Dachgauben umgebaut worden. Der Weg zum Haus ist gepflastert und breiter. Die Wiesen sind jetzt Blumenrabatten, dazwischen stehen hübsch bepflanzte Terracotta-Töpfe. Unsere vielen Jasminbüsche an den Rändern des großen Grundstückes gibt es nicht mehr, auch nicht den Flieder."

    Ich öffnete das Gartentor und lief über den schmaleren Nebenweg zur hinteren Seite des Hauses. Der Wintergarten – wo blieben die dünnen Geigentöne meiner Mutter? – hatte man genau wie vor dem Bombenangriff wiederaufgebaut. Die Fens­ter aller anderen Zimmer waren bodentief vergrößert worden.

    Unser steinernes Gartenhäuschen stand noch da, freilich ohne die Schaukel in seinem Ausgang. Unser Schwimmbecken hatte man zugeschüttet. Noch immer begrenzten die hohen Zedern unmittelbar dahinter den Garten zum Nachbarhaus.

    Die weite Wiesenlandschaft bis hinunter ins Lahntal gab es nicht mehr. Sie war völlig zugebaut. Hier oben also hatte sich das Stadtbild ganz und gar verändert. Mit dieser sachlichen Feststellung rettete ich mich im allerletzten Moment vor einer Panikattacke, die sich ankündigen wollte. Nur noch weg von hier, weg vom Anblick der Zedern vor allem! Mit ihnen war die Zeit plötzlich zusammengeschrumpft und ließ mich den Abstand zu früher kaum noch wahrnehmen.

    Auf einmal ist mir klar, und es verdichtet sich in meiner Vorstellung zu einem fast schon fertigen Manuskript: Ich werde alles aufschreiben, alles, was ich noch weiß. Für wen? Zunächst für mich und meine Generation.

    Meine Geschichte ist nicht alltäglich. Aber sie passt genau in die Zeit, in der wir „Neunzehnhundertfünfunddreißiger" uns alle auskennen. Und die nach uns kamen, die sich NICHT auskennen, die das, was sie nur vom Hörensagen wissen, aber nicht erlebt haben, sollten sie zur Kenntnis nehmen. Um gerechter zu urteilen. Das doch zumindest.

    Draußen, endlich wieder auf der Straße, holte ich mein Handy aus der Handtasche und rief Johannes an. Er wusste von dem Klassentreffen und hatte, wenn auch nicht so früh am Morgen, mit meinem Anruf gerechnet. „Weißt du, antwortete er auf meinen aufgeregten Bericht ganz ruhig, „wir sind jetzt in einem Alter, in dem man belastende Erlebnisse von früher endgültig abhaken sollte.

    „Hab ich damals als junges Mädchen schon getan. Sonst wäre ich später doch nicht wieder so glücklich geworden! Nur mit dem Wörtchen ‚endgültig‘ klappt das offenbar nicht so richtig. Die Zedern da hinten, wo das Schwimmbecken …"

    „… Lass das blöde Schwimmbecken liegen und geh jetzt nicht auf den Hauptfriedhof zum Familiengrab, lass unsere Toten einfach ruhen. Fahr nach Hause."

    „Ich werde meine Geschichte aufschreiben."

    „Eine gute Idee. Und im Schreiben lass auch endlich deine letzten Schuldgefühle los!"

    „Ich hätte selbst nicht gedacht, dass sie sich heute wieder melden würden."

    „Blas sie in den Wind, kleine Schwester, sie sind ganz und gar unberechtigt! Und damit du zwischendurch ordentlich was zu lachen hast, denk an die Geigerei unserer Mutter!"

    Ich lachte jetzt schon, schaute noch einmal zurück zu dem ehemaligen Wintergarten und meinte die kratzigen Geigentöne durch die Glaswand zu hören, als hätten sich die Saiten losgelöst, um sich als Einzeltäter noch zu steigern.

    Im Hotel packte ich meine Sachen, setzte mich in meinen Golf und fuhr zurück nach Frankfurt, über meine geliebte Friedensbrücke nach Sachsenhausen und in die Paul-Ehrlich-Straße.

    Unter der Birke am Gartentisch richtete ich mir ein kleines Büro ein mit meinem Laptop, Papier und Brille – und dachte darüber nach, wie ich anfangen könnte.

    2

    M

    ein Weilburger Schulweg der ersten Jahre führte über den Alten Friedhof. Er bedeutete eine Abkürzung der weiten Strecke, die ich täglich zu laufen hatte. Aber nicht deshalb wählte ich diesen Weg. Ich freute mich immer schon darauf, das verrostete Eisentor nach innen zu drücken – die Klinke war abgefallen – mich mitsamt meinem Schulranzen durch den schmalen Spalt zu zwängen, das Tor wieder heranzuschieben und nun ganz allein mit mir zu sein. Kein Mensch sonst wollte offenbar diesen Ort betreten, denn noch nie war mir hier jemand begegnet.

    Ich liebte diesen Friedhof, den ich wie eine notwendige Schutzzone vor der Schule empfand, vor diesem hässlichen gelben Kasten unten an der Lahn, der aussah wie eine heruntergekommene Kaserne. In der ein „Herr Hauptlehrer" sein Unwesen trieb, Ohrfeigen verteilte und mit dem Stock auf die Handrü­cken von uns Kindern schlug.

    Für Augenblicke gerieten hier solche Szenen ganz in Vergessenheit oder nahmen so verschwommene Konturen an, dass ich sie – und meine Angst – beiseite schieben konnte. Auf dem Alten Friedhof gab es keine Gegenwart. Sie war ausgesperrt worden für immer. So klein ich noch war, ich konnte das spüren, ganz unmittelbar. Wahrscheinlich, w e i l ich noch so klein war.

    Sprödes Gras überall, keine Wege. Und darüber hohe, alte Buchen. Die rauschten weit da oben vor sich hin, filterten das Licht, sodass ich mich geborgen und beschützt fühlte wie in einem dämmrigen Raum. Dämmrig, nicht dunkel!

    Ich kannte bald jeden einzelnen der verwitterten, lose he­rumliegenden Grabsteine. Ihre Inschriften konnte man kaum noch erkennen. Und die Grabeingrenzungen, wenn es sie überhaupt gegeben hatte, waren längst vom Gras überwuchert.

    Besonders angezogen fühlte ich mich von einer kleinen losen Grabplatte, in der als Relief der Kopf eines Kindes zu erkennen war, mit einem ganz zart eingemeißelten Gesicht. Es musste ein Mädchen gewesen sein, denn man sah die Andeutung langer Haare. „Lange Haare und so ein süßes Gesicht, aber schon tot, flüsterte ich traurig, „dann geb ich dir wenigstens einen Namen. Ich nannte sie Eva. Oben rechts auf dem Stein waren fremde Schriftzeichen eingraviert, hier sogar noch etwas deutlicher zu sehen. Vielleicht ihr richtiger Name oder ihr Todestag?

    Weil wir noch Sommer hatten, konnte ich mich zu ihr ins Gras setzen und ihr alles Mögliche erzählen. Von meinem Vater, der im Krieg war, meinen Brüdern, meiner Freundin Juliane. Nach wenigen Minuten stand ich auf und klopfte mir die Grashalme vom Rock. „Jetzt aber auf Wiedersehen, Eva, weißt du, ich muss zur Schule!" Die zweite Hälfte meines Weges, wenn ich auf der Rückseite des Friedhofs über einen halb eingerissenen Drahtzaun wieder hinausgeklettert war, konnte ich nur noch rennend zurücklegen, um gerade noch rechtzeitig vor dem Hauptlehrer ins Klassenzimmer zu witschen.

    Der Lehrer war klein und spirlig und trug eine kreisrunde, randlose Brille, deren dicke Gläser seine Augen unmäßig vergrößerten. Und er vertrat noch die unangefochtene Prügelpä­dagogik der 40er Jahre: „Wer Angst hat, pariert."

    Alphabetisch geordnet, saßen wir in unseren Holzbänken mit den Klappsitzen. Ich hieß mit Nachnamen Berkum, zu unserem großen Glück hieß Juliane Colpi, sodass wir nebenei­nander sitzen konnten.

    Juliane war eine Träumerin, ausgeprägter noch als ich. Öfter vergaß sie ihre Schiefertafel, ihre Griffel oder ihr Lesebuch. Dafür wurde sie geohrfeigt. Und wenn der Hauptlehrer zum Schlag ausholte, traf er dabei mit seinem Handrücken auch mich. Ich beschwerte mich nicht, denn ich liebte Juliane sehr und fand es irgendwie in Ordnung, mit ihr gemeinsam zu leiden.

    Ihre Schiefertafel hatte einen tiefen Riss, das allein schon heizte den Ärger des Lehrers an. Nach jeder seiner Attacken saß sie da, schluchzend, die Hand auf die feuerrote Wange und das Ohr gepresst. Und taub gegen meine Tröstungsversuche. Vielleicht auch vorübergehend wirklich taub. Sie wäre damals nicht das erste Kind mit zerschlagenem Trommelfell gewesen.

    Wir beiden Freundinnen teilten in der Schule alles, was uns möglich war. Mit einem Griffel, Schwamm und Bleistift konnte ich aushelfen, leider nicht mit der Schiefertafel, auf der ja in meiner Schrift die Hausaufgaben standen. Unser Peiniger hätte es sofort gemerkt. Juliane gab mir im Gegenzug die Hälfte ihres Schulbrotes ab, weil ich selten eines dabeihatte.

    Der Lehrer nannte mich Udrei. Eigentlich hieß ich, wie viele Mädchen meines Jahrganges, Ursula. Der Modename ging damals wie eine Flut über das Land. Und bis sich junge Eltern bei der Namensentscheidung dessen so richtig bewusst wurden, stand Ursula, die kleine Bärin, schon im Buch der Standesbeamtin. Der Lehrer half sich durch Nummerierung. Vier kleine Bärinnen waren wir in der Klasse, für ihn war ich aus unerfindlichen Gründen, denn es passte nicht ins Alphabet der Nachnamen, die Nummer drei. Deshalb also Udrei.

    Zu Hause und von Freunden wurde ich freilich, solange ich denken konnte, immer nur Uffa genannt, weil mein kleiner Bruder den Namen Ursula nur so hatte aussprechen können. Er war damit zu meinem lebenslangen Namensgeber geworden.

    In der Schule nun aber Udrei.

    An den Kreisspielen auf dem Pausenhof hätte sich Juliane beteiligen dürfen, für mich waren sie gesperrt.

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