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Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung
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Ebook157 pages1 hour

Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung

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Verstecken gilt nicht, nicht in diesem Leben. Atemlos und unentwegt auf der panischen Suche nach einem sicheren Unterschlupf schlägt sich die Erzählerin in dieser bodenlosen Erzählung durch feindliches Gebiet. Sie verwischt ihre Spuren, zieht sich zurück, und doch ist der Tod immer schon da. Er scheint in einem verlassenen Haus zu lauern, das ihr im Traum immer wieder begegnet und in dem sie auf sich gestellt bis zur Erschöpfung gegen Schatten und Gespenster kämpft, die ihrer eigenen Vergangenheit entwachsen sind. Sie trägt eine Schuld, doch sich dieser zu stellen und ihr Schweigen zu brechen, kommt nicht infrage. In einem letzten Versuch, die sie jagenden Geister zu vertreiben, kehrt sie im wachen Zustand zur Kulisse ihrer Alpträume zurück. Erbarmungslos beunruhigend und auf vielen falschen Fährten führt uns Olivia Rosenthal in unwirtliche Gefilde, die wir nie betreten wollten und die dennoch einen unwiderstehlichen Sog ausüben.
LanguageDeutsch
Release dateSep 1, 2017
ISBN9783957574886
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    Book preview

    Überlebensmechanismen in feindlicher Umgebung - Olivia Rosenthal

    aufzudecken.

    1. Die Flucht

    Ich habe sie einfach am Straßenrand gelassen, ich konnte in keinem Fall mehr bei ihr bleiben, es wurde zu gefährlich. Ich ließ sie an einer windgeschützten Stelle zurück, in einer Furche, hinter einer buschigen Hecke, einem Gestrüpp aus Wurzeln und dornigen Pflanzen, feindlich wie Stacheldraht. Ich dachte, sie könnte dort bleiben, ohne gesehen zu werden, und, falls Verbündete die Straße entlangkommen sollten, auf sie aufmerksam werden und sich bemerkbar machen. Ich stopfte ein paar Vorräte in einen Stoffbeutel und schob ihn ihr unter den Arm. Sie stöhnte, öffnete die Augen, ich flüsterte ihr nur Ich gehe ins Ohr. Dann machte ich mich wieder auf den Weg. Ich folgte der Furche ein paar Hundert Meter, danach kam ein weites freies Gelände, ich wollte lieber die Nacht abwarten, obwohl ich weiß, dass die Nacht keine Hilfe ist. Wir dürfen uns nachts nicht von der Stelle bewegen. Ich tat es trotzdem. Ich wartete, bis die Sonne unterging. Ich schaute lange auf das kahle Plateau, spähte nach den geringsten Bewegungen und Lichtveränderungen, versuchte, die Gegenwart unsichtbarer Angreifer auszumachen. Ich wagte den ersten Schritt nicht, fragte mich, ob ich nicht besser umkehren und zurückgehen sollte. Hinter mir war ein Geräusch zu hören, wie ein Knistern. Womöglich nur ein Vogel, der sich einen Weg zwischen den Zweigen suchte, aber ich hatte eine solche Angst, dass ich ohne zu überlegen losstürzte. Ich rannte so schnell wie möglich geradeaus und dachte die ganze Zeit daran, dass mich plötzlich eine Kugel treffen könnte. Statt mich zu lähmen, verdoppelte diese Mutmaßung meine Kräfte. Ich konzentrierte mich ausschließlich auf meine Atmung, die wirksamste Art, die Luft zu spalten. Die Angst ist eine Methode, sich selbst zu verkennen und folglich zu erhalten.

    Ich weiß nicht, wie lange ich gerannt bin. Plötzlich war ich unter den Bäumen. Ich blieb stehen, als ich kaum noch Luft bekam. Ich schaute mich um. Noch war die Straße im Hintergrund zu erahnen, die lange struppige Hecke, an der ich sie zurückgelassen hatte. Etwas in mir sträubte sich weiterzugehen. Lange blieb ich dort am Waldrand stehen, mit klopfendem Herzen, als würde ihre Silhouette plötzlich auf dem Plateau auftauchen und auf mich zukommen. Doch nichts dergleichen geschah. Später, ich weiß nicht wie, war ich wieder in den Wald gelangt. Ich stieß gegen umgestürzte Stämme, tastete mich durchs Dunkel. Wind war aufgekommen. Es war kühler geworden.

    Ich schlief mit kurzen Unterbrechungen, an einen Baum gelehnt. Ich aß nichts. Da ich mich nicht mehr an das genaue Datum meines Aufbruchs erinnerte, fasste ich den Vorsatz, vom nächsten Tag an die Tage zu zählen. Ich glaubte, so die Zeit messen zu können, die mich von ihr trennte und unweigerlich von ihr entfernte. Ich glaubte, die Anzahl der Tage würde weiter und weiter wachsen und irgendwann so groß werden, dass ich nichts mehr dagegen tun könnte. Die Zahlen würden meinen Kopf füllen, ihn besänftigen und undurchdringlich machen. Ich wollte in die Undurchdringlichkeit der Zahlen eintauchen.

    Der nächste Tag war der erste. Es gelang mir, in einiger Entfernung den ehemaligen Eisenbahnschienen zu folgen. Ich wollte den Patrouillen ausweichen.

    Am fünften Tag kam ich in ein Dorf. Ich postierte mich ein paar Dutzend Meter weiter weg und wartete. Ich befürchtete, dass sich eine Gruppe dort niedergelassen hatte. Ich atmete die Luft ein, kein verdächtiger Geruch drang an meine Nasenlöcher. Ich scharrte im Boden, um sicherzugehen, dass keine unterirdischen Stollen gegraben worden waren. Ich presste mein Ohr direkt auf die Erde und horchte. Nichts. Alles blieb ruhig. Ich wartete noch eine Weile. Einen ganzen Tag und eine Nacht lang blieb ich in der Nähe des Dorfes, ohne es zu betreten. Am sechsten Tag wagte ich es, mir die Häuser anzuschauen. Das Dorf war verlassen. Vor dem Aufbruch hatten die Bewohner alles verbrannt, was sie hätte identifizieren können. Ich suchte alles ab, fand einen brauchbaren Unterschlupf, meine Kräfte begannen zu schwinden, ich blieb.

    Am Anfang fiel es mir schwer, mit niemandem zu sprechen. Ich bedauerte, sie zurückgelassen zu haben. Ich litt darunter. Ich sagte mir, dass ich sie womöglich hätte retten können, wenn wir dieses Dorf gemeinsam erreicht hätten. Doch der Gedanke daran zermürbte mich, und so ließ ich diesen Gedanken fallen. Ich konzentrierte mich auf die Organisation meines Überlebens und beschloss, dieses Überleben zu formulieren, die Wörter auszusprechen. Ich hatte Angst, sie sonst zu vergessen. Meine Stimme klang merkwürdig in meinen Ohren. Ich sagte Ich werde mich verstecken, ich sagte Ich werde mir die Häuser zur Mittagsstunde anschauen, ich werde einen sicheren Ort finden, einen Ort ganz für mich alleine, um von allen Blicken abgeschirmt im Trockenen, im Warmen zu schlafen. Es gibt Wörter, die ich unwillkürlich verwendete. Zum Beispiel Mittagsstunde, ich sagte es, weil ich Gefallen daran fand, weil ich etwas Uraltes und Verborgenes wieder hervorholen wollte, und es zu sagen tat mir gut.

    In den ersten Tagen hatte ich Angst, eine Gruppe könnte auftauchen. Fänden sie mich, dann wäre ich verloren, sie würden mich auf grausame Weise bestrafen. Ich hatte sie schon einmal dabei beobachtet. Und auch ich selbst hatte es schon getan. In einem der Häuser fand ich ein Versteck und beschloss, mich vorübergehend dort niederzulassen, bis ich wieder zu Kräften gekommen wäre und mir Waffen gebastelt hätte. Am achten Tag sagte ich Ich werde mir Waffen bauen. Ich stellte fest, dass ich in der Zukunft sprach, dass es also etwas Bevorstehendes zu erkunden gab. Ich nahm mir vor, es später zu erkunden, wenn ich mir etwas Ruhe gegönnt hätte. Ich schlief zusammengekauert in meinem Versteck, das kaum breiter war als eine Schublade. Ich wachte mehrmals auf, ohne zu wissen, wie spät es war. Schon seit Langem konnte ich die Stunden nicht mehr zählen. Ich beschloss, dass ich es zumindest ungefähr tun müsste, denn würden auch noch die Stunden verschwinden, wäre es unmöglich, die Tage zu zählen, und die Tage wollte ich unbedingt zählen. Vorsichtig wagte ich mich aus meinem Unterschlupf und stieß die Klappe auf, hinter der ich mich versteckte, gleißendes Licht. Widerstrebend ging ich auf den Hauseingang zu. Ich wäre lieber in meiner Höhle geblieben und endgültig in Schlaf versunken. Ich sah die Sonne senkrecht stehen, Mittag, sagte ich mir, die Zenitstunde. Ich dachte, dass es eine Parallele, einen Unterschied und eine Parallele zwischen Mittagsstunde und Zenitstunde gab. Ich hatte die Bestätigung, dass die Wörter Realitäten der Welt beschreiben, dass sie Dauer fixieren. Das freute mich für einen Moment, doch dann vergaß ich die Freude. Ich fühlte mich exponiert, dort, vor dem Haus, weithin sichtbar. Ich hatte den Eindruck, beobachtet zu werden, kletterte schnellstmöglich in mein Versteck zurück und zitterte, ich zitterte, in der Hand eine jener rudimentären Waffen, die ich zu bauen begonnen hatte.

    Später begriff ich, dass ich nicht gesehen worden war. Bis auf Weiteres war ich alleine. Das beruhigte mich zwar nicht völlig, aber wenigstens blieb mir so, wie ich dachte, genug Zeit zum Überlegen, wie es weitergehen sollte. Ich sagte mir Mach dir Gedanken, wie es weitergehen soll, doch die Befehle an mich selbst hatten nicht die gewünschte Wirkung. Ich machte mir keine Gedanken. Ich blieb in mein Versteck gekauert. Ich hatte Hunger. Durst. Ich ging wieder hinaus, um festzustellen, dass es Nacht geworden war. Demnach konnte ich einen Tag verbuchen, einen weiteren Tag, seitdem ich meine Gefährtin an der Straße im Stich gelassen hatte.

    Ich begann, mich an meine Bleibe zu gewöhnen, in meiner Wachsamkeit nachzulassen. Wenn sie bisher nicht gekommen waren, würden sie nicht mehr kommen. Ich begann, etwas häufiger hinauszugehen, vor allem tagsüber. Zunächst eine Stunde, um die Umgebung zu inspizieren, dann zwei Stunden, schließlich den ganzen Nachmittag. Die Tage vergingen, der Abstand zwischen ihr und mir wurde undurchdringlicher. Gleichzeitig war der Raum, der uns trennte, noch immer derselbe. Das erschwerte meinen Aufbruch. Würde ich regelmäßig gehen und genau denselben Weg wie auf dem Hinweg nehmen, konnte ich nach meinen Berechnungen hoffen, in sechs Tagen bei ihr zu sein. Doch ich hatte sie schon vor elf Tagen verlassen. Eine Patrouille musste sie mitgenommen haben. Ich sagte laut vor mich hin Ich bilde mir das ein, es gibt keine Patrouille. Ich verübelte es mir, so zu sprechen und so zu denken. Gleichzeitig waren immer alle auf der Flucht, ich war wie alle.

    Am dreizehnten Tag entdeckte ich in einem ehemaligen Gemüsegarten einen Bach. Ich trank und wusch mich. Ich musste mich wieder auf den Weg machen, aber ich konnte es nicht, ich konnte mich nicht mehr bewegen, eine unbestimmte Taubheit breitete sich in mir aus, ich wähnte mich in Sicherheit. Mein Gedächtnis begann sich zu trüben, ich deutete es als gutes Zeichen, dass ich im Begriff war, sie aufzugeben. Ich sagte Ich verlasse dich. Ich sagte Ich kann nicht anders. Ich sagte Wir wären beide gestorben. Ich sagte Es ist besser, wenn eine von beiden überlebt. Ich schwieg. Ich war erschöpft. Das Sprechen verlangte mir eine ungeheure Anstrengung ab, eine größere Anstrengung als das Essen, Verstecken, Warten oder Aufpassen. Am nächsten Tag blieb ich in meinem Versteck, ich hatte Fieber.

    In dieser Zeit kamen mir Bilder, Empfindungen und Träume, zunächst undeutlich, dann klarer, so klar, dass sie zu schmerzen begannen. Am fünfzehnten Tag gewannen die Bilder an Kontur. Weil ich Fieber hatte, gelang es mir nicht, sie zu verscheuchen.

    Die sogenannte Nahtoderfahrung (NTE) oder Near Death Experience bezeichnet die Gesamtheit der Phänomene, die auf den klinischen Tod oder ein fortgeschrittenes Koma folgen. Die anschließend unter die Lebenden zurückkehrenden Patienten beschreiben alle ähnliche Symptome. Sie sehen einen Tunnel, einen schmalen Schlauch, den ihre Silhouette betritt und langsam durchmisst. Am Ende des Tunnels erblicken sie ein Licht. In dieser letzten Vision sind sie auf einen einfachen Umriss reduziert, eine undifferenzierte schwarze Form, ein Schatten. Sie sind lang und glatt, sie bewegen sich langsam wie Automatenmenschen. Sie versuchen, herauszukommen, den Lichtschein am Ende des Tunnels zu erreichen. Wenn es ihnen gelingt, taucht ihre Silhouette dort ein und löst sich auf. Doch diejenigen, die zurückgekommen sind, erreichen ihn nicht. Sie verharren auf der Schwelle, eine unbekannte Kraft hindert sie am Weitergehen. Wenn die Empfindung abflaut, sich die Öffnung im Hintergrund wieder entfernt, sind sie enttäuscht, möglicherweise zu Unrecht. Denn ginge ihre Silhouette durch die Tür und verschwände in dem strahlenden Glanz, wären sie tot.

    Am siebzehnten Tag war mein Fieber leicht zurückgegangen. Ich konnte den Horizont beobachten. Das Wetter war klar. Ich sah nichts Beunruhigendes. Ich kehrte zum Fluss zurück und tauchte ganz in ihn ein, um das Fieber zu senken. Meine Kleider klebten an der Haut. Ich zog sie aus. In eine Decke gehüllt, die ich in einem der Häuser gefunden hatte, wartete ich, bis sie trocken waren. Es lag etwas in der Luft, das mich drängte wegzugehen. Als es dunkel geworden war, stieg ohne einen besonderen Grund die Angst wieder in mir auf.

    Am achtzehnten Tag war jemand im Haus. Ich wusste es sofort, glaube sogar, dass mich das Geräusch von zertretenem Gras aus dem Schlaf riss. Es war kurz vor Sonnenaufgang. In meinen Unterschlupf drang ein wenig Licht, draußen waren Geräusche zu hören. Schritte rings um das Haus, Türen, die geöffnet werden, jemand, der hereinkommt. Ich konzentrierte mich auf meine Atmung, versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, schnellstmöglich zu überlegen, was ich tun würde, falls sie die Klappe aufstoßen würden. Ich sah keine Lösung. Ich saß in der Falle. Ich dachte an die Spuren, die ich hinterlassen hatte – hatte ich Spuren hinterlassen? Ich verübelte es mir, sie nicht systematisch beseitigt zu haben. Die Schritte kamen näher. Das Nachdenken fiel mir

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