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Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition]: Der lange Abschied vom totalitären Erbe
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition]: Der lange Abschied vom totalitären Erbe
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition]: Der lange Abschied vom totalitären Erbe
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Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition]: Der lange Abschied vom totalitären Erbe

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About this ebook

Since 1997, FORUM is an integral part of the journal landscape of European Studies. In addition to facts of contemporary history, it offers deep insights into the history of ideas, reflects current discussions, and provides reviews of books on Central and Eastern European history. Especially on the history of ideas and contemporary history it offers more than ?just? history -- e.g. interdisciplinary discussions by political scientists, literary, legal, and economic scholars and philosophers. FORUM sees itself as a bridge between East and West. Through the translation and publication of documents and contributions from Russian, Polish, and Czech researchers it offers the Western reader insight into the scientific discourse within Eastern Europe.Volume 18, Issue 1: The way the Federal Republic of Germany dealt with its past is seen by some as a role model for many post-authoritarian and post-totalitarian transition countries in East and West, despite some downsides of the long process of coping with the past after the German ?zero hour?. The current FORUM issue focuses on the comparison of the specifics of German memory culture with those of the Eastern European countries, especially Poland and Russia, since the beginning of their de-Stalinization debates.Seit 1997 ist das FORUM fester Bestandteil der Zeitschriftenlandschaft der Osteuropaforschung. Neben Fakten der Zeitgeschichte bietet es tiefe Einblicke in die Ideengeschichte, spiegelt aktuelle Diskussionen wider und liefert Rezensionen zu Werken der mittel- und osteuropäischen Zeitgeschichte. Gerade in den Rubriken Ideengeschichte und Zeitgeschichte bietet es mehr als "nur" Geschichte -- fächerübergreifend kommen u.a. Politologen, Literatur-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler sowie Philosophen zu Wort. Das FORUM versteht sich als Brücke zwischen Ost und West. Durch die Übersetzung und Veröffentlichung von Dokumenten und Beiträgen aus dem Russischen, Polnischen und Tschechischen bietet es dem westlichen Leser Einblicke in den wissenschaftlichen Diskurs Osteuropas. Heft 1/2014: Der lange Abschied vom totalitären Erbe Das Modell der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung gilt als Vorbild für viele postautoritäre bzw. posttotalitäre Transformationsstaaten in Ost und West, ungeachtet mancher Schattenseiten des langwierigen Prozesses der deutschen Vergangenheitsbewältigung nach der "Stunde Null". Das aktuelle Forum-Heft vergleicht in seinem thematischen Schwerpunkt die Spezifika der deutschen Erinnerungskultur mit denjenigen der osteuropäischen Länder, vor allem Polens und Russlands, seit dem Beginn der Entstalinisierungsdebatten.

LanguageEnglish
PublisherIbidem Press
Release dateMar 1, 2014
ISBN9783838267227
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition]: Der lange Abschied vom totalitären Erbe

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    Book preview

    Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 18. Jahrgang, Heft 1 [German-language Edition] - Ibidem Press

    ibidem-Verlag, Stuttgart

    Inhaltsverzeichnis

    Einführung

    I. Der lange Abschied vom totalitären Erbe – die deutsche, die russische und die polnische Vergangenheitsbewältigung im Vergleich (internationale und interdisziplinäre Tagung des ZIMOS) – Mai 2012

    Leonid Luks

    Einleitung

    Johannes Hürter

    Die Wehrmachtsgeneralität und die „Bewältigung" ihrer NS‐Vergangenheit

    Tomasz Chinciński, Tomasz Rabant

    Die deutsche Besatzung im kollektiven Gedächtnis der Polen

    Leonid Luks

    Anmerkungen zum polnischen Russlandbild nach 1956

    Boris Chavkin

    Eine neue Popularität Stalins? – Der Platz Stalins in der Erinnerungskultur des heutigen Russland

    Antonina Zykowa

    Russland und das totalitäre Erbe: Zwischen nationalen Traumata und „falsifizierter" Geschichte

    Madeleine Mahrla

    Die deutsch‐französische Aussöhnung nach 1945 als Vorbild?

    John Andreas Fuchs

    The Making of Democrats: Die US‐amerikanische Bildungsarbeit in Nachkriegsdeutschland

    Jürgen Zarusky

    Kampfplatz Geschichte. Anmerkungen zur europäischen Erinnerungspolitik nach dem Untergang des Kommunismus

    II. Zeitgeschichte

    Helmut Altrichter

    Sowjetische Reaktionen auf die nationalsozialistische Machtübernahme

    Martin Malek

    Zwischen der EU und Russland: die Ukraine in einer Zerreißprobe

    III. Kunstgeschichte

    Anne Rennert

    „Zwei sind im Zimmer" – Rodčenko, Lenin und Majakovskij: zur Präsenz des Abwesenden

    IV. Debatte

    Lothar Fritze

    Ideologie oder Psychopathologie? Aus Anlass einer Rezension Jörg Baberowskis

    Manfred Zeidler

    Von Tätern und Theorien. Anmerkungen zu einer Kontroverse über den Zusammenhang von Ideologie und Politik unter totalitären Verhältnissen

    Leonid Luks

    Über den Glauben der totalitären Täter an die „moralische Erlaubtheit" ihres Tuns. Eine Replik auf die Thesen von Lothar Fritze

    V. Dokumente

    Briefwechsel zwischen Simon L. Frank und Ludwig Binswanger (1938 – 1941)

    VI. Buchbesprechungen

    Über die Autoren

    Einführung

    Das vorliegende Heft des Forums für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, das erste, das im Stuttgarter ibidem-Verlag erscheint, setzt den Schwerpunkt einmal mehr auf die Auseinandersetzung mit dem Erbe der totalitären Systeme im Europa des 20. Jahrhunderts. Wird die vermeintlich gelungene Aufarbeitung der nationalsozialistischen Epoche in der Bundesrepublik verbreitet als Vorbild erachtet, sah sich die bundesdeutsche Gesamtgesellschaft nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern nach nahezu 60 Jahren durchgehender Diktaturerfahrung einer neuen Herausforderung gegenüber: Nicht nur der Last von Jahrzehnten zunächst stalinistischer und später staatssozialistischer Repression galt es zu begegnen. Vielmehr war die erste – nationalsozialistische – Diktatur in dem offiziell rein antifaschistisch deklarierten deutschen Teilstaat nie Gegenstand einer freien Diskussion gewesen. Diesem doppelten Erbe ist das wiedervereinigte Deutschland in den letzten 25 Jahren mit einer Vielzahl an Institutionen, Denkmälern, Gedenkstätten und Initiativen begegnet – angefangen von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicher­heitsdienstes in der ehemaligen DDR (BStU) über die Gedenkstätte Hohenschönhausen bis hin zur Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, um nur einen kleinen Ausschnitt zu nennen. Gleichwohl bleiben Fragen nach der gesellschaftlichen Tiefenwirkung solcher Initiativen sowie nach der juristischen Aufarbeitung wie finanzieller Entschädigung erlittenen Unrechts offen, wovon zuletzt die Diskussion um die Ghettorenten oder die Prozesse der letzten NS-Verbrecher Zeugnis ablegen. Doch scheint eben schon die Annahme über den Vorbildcharakter der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung von vornherein fraglich, wie Johannes Hürter in seinem Beitrag über die Wehrmachtsgeneralität verdeutlichen kann. Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit in Form von Vertuschen und Verharmlosen kann geradezu als Negativfolie herangezogen werden. Soweit der sicher in vielerlei Hinsicht besondere Fall des „doppelten" Deutschland, doch sahen sich nach dem Revolutionsjahr 1989 auch andere Ostblockstaaten einer zweifachen Diktaturerfahrung gegenüber. So hat etwa die Unterdrückung einer Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen in Polen zu bemerkenswerten Verzerrungen in der allgemeinen Wahrnehmung geführt. Die von sowjetischer Seite begangenen fraglos schrecklichen Verbrechen an Polen wie die Deportationen aus den Kresy infolge des Hitler-Stalin-Paktes oder das stalinistische Terrorregime Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre scheinen dabei zuweilen stärker präsent zu sein als die vom Ausmaß her umfangreicheren Verbrechen unter der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Dies belegen die Meinungsumfragen, die das auf der Danziger Westerplatte entstehende Museum des Zweiten Weltkrieges durchgeführt hat und die im Beitrag von Tomasz Chinciński und Tomasz Rabant präsentiert werden. Daran anschließend wird gezeigt, wie in der künftigen Dauerausstellung dieses vielbeachteten Museumsprojektes der doppelten Besatzung Polens durch die beiden totalitären Regime eingebettet in einem gesamteuropäischen Kontext Rechnung getragen werden soll. Wie sich das schwierige russisch-polnische Verhältnis nach dem einschneidenden Jahr 1956 gestaltete führt Leonid Luks anhand der polnischen unabhängigen katholischen beziehungsweise nichtoffiziellen Presselandschaft in Polen aus. Dabei überwog ein pragmatischer, von Verständnis geprägter Zugang, ohne freilich darüber die Ziele der Opposition nach mehr Selbständigkeit und Demokratisierung zu vergessen. Die hoffnungsvollen Signale, die viele polnische Intellektuelle mit der Aufarbeitung der polnisch-russischen Beziehungsgeschichte während der Gorbačevschen Perestrojka verbanden, konnten bekanntlich vor allem seit Ende der 1990er Jahre nicht eingelöst werden. Dass die Gründe für diesen Rückschritt neben dem nationalpolnischen Intermezzo durch die Brüder Kaczyński vor allem in Russland selbst zu suchen sind, veranschaulichen die Beiträge von Boris Chavkin und Antonina Zykowa, die sich dem weithin verharmlosenden Stalinbild widmen, das unter Putin durch eine rigide Geschichtspolitik – etwa durch die im Westen vielbeachtete Wahrheitskommission – implementiert werden soll. Einen profunden Überblick über die schwierige Erinnerungslandschaft, insbesondere in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, liefert schließlich Jürgen Zarusky. Unterschiedliche Loyalitäten, auch innerhalb eines Landes, sowie der Kampf um Jahrestage und Denkmäler, machen mittelfristig eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur nicht sehr wahrscheinlich. Umso mehr bedarf es zumindest einer Kenntnis der Ursprünge der unterschiedlichen Sensibilitäten im Umgang mit den Hinterlassenschaften beider totalitärer Systeme. Eine einseitige Fokussierung auf Stalinismus und Kommunismus, das unterstreicht Zarusky, führt dabei notwendig ins Leere. Wo die Haupttrennlinien der gemeinsamen Erinnerungskultur liegen, ist zur Zeit in der Ukraine – mental – und teilweise sogar territorial zu besichtigen. Die Genese des derzeitigen Ukraine-Konflikts ruft die Darstellung Martin Maleks an anderer Stelle in diesem Heft noch einmal ins Gedächtnis.

    Abgerundet wird die Sektion durch einen Vergleich der Vergangenheitsbewältigung zwischen der Bundesrepublik und zwei westlichen Staaten – Frankreich und den Vereinigten Staaten. Auch der deutsch-französischen Aussöhnung nach 1945, deren Stationen Madeleine Mahrla nachzeichnet, wird häufig ein Vorbildcharakter, etwa für die deutsch-polnische Aussöhnung, zugesprochen. Dabei wird deutlich, dass offizielle Versöhnungsgesten und -initiativen meist stark von der allgemeinen Wahrnehmung abweichen. Nicht zuletzt der völlig geänderte zeitliche wie geopolitische Kontext spricht für Mahrla gegen den Versuch, die deutsch-französische Aussöhnung einfach auf andere Beispiele übertragen zu wollen. Einen geglückten Versuch einer Aufarbeitung „von oben" skizziert schließlich John Andreas Fuchs in seinem Aufsatz zur Re-Education der deutschen Gesellschaft nach 1945. Dies gelang hauptsächlich deswegen, weil seitens der Amerikaner die Bereitschaft vorhanden war, sich von der negativen Form der Re-Education, der abschreckenden und erfolglosen Umerziehung, zugunsten einer positiven, der Demokratisierung, zu verabschieden.

    Wie wenig Einigkeit in der – hier weit gefassten – Totalitarismusforschung herrscht, zeigt die Reaktion auf einen Beitrag, den 2012 Lothar Fritze vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung mit Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich[1] vorgelegt hat. Fritze geht dabei letztlich vor allem der Frage nach, welcher Stellenwert der Ideologie in der Ausübung von Verbrechen in totalitären Weltanschauungsdiktaturen beizumessen ist, vor allem wie es dabei zum Typus des „Täters mit gutem Gewissen kommen konnte, dessen Entstehung nach Fritze sowohl Nationalsozialismus wie Stalinismus mindestens „begünstigt hätten. In seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung widerspricht Jörg Baberowski Fritze vehement. Das Verständnis der Ideologien trägt für ihn nichts zum Verständnis der Verbrechen in totalitären Systemen bei. Dies hat Baberowski zuletzt ausführlich in seinem Buch Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt dargelegt. Der darin vertretene Standpunkt, dass es wesentlich die Gewalterfahrung führender Bolschewiki sowie die psycho­(patho)logische Disposition Stalins selbst waren, die für die Gewaltexzesse des Stalinismus verantwortlich zeichneten, sozusagen Gewalt um ihrer selbst willen erzeugten, ist in gewisser Weise nicht eine totale Abkehr von seinen Thesen in Der rote Terror aus dem Jahr 2003. Schon dort heißt es: „Mit dem bloßen Hinweis auf die ideologische Zurichtung der Machthaber und die Anwendung utopischer Sozialtechniken ist für unser Verständnis des Stalinismus also noch nichts gewonnen.[2] Diese Erkenntnis gipfelt nun in der Feststellung, „daß Ideen nicht töten.[3] Demnach erübrigte sich also eine Erforschung der die totalitären Systeme legitimierenden Ideologien, wenn wir etwas über deren verbrecherischen Charakter in Erfahrung bringen wollen. Fritze wiederum hält dies für unerlässlich, wenn auch nicht für ausreichend, um verstehen zu können, warum Personen während der Zeit des Nationalsozialismus wie auch des Stalinismus Mensch­heitsverbrechen begehen konnten, und diese anscheinend durch die jeweiligen Ideologien legitimiert sahen. Es handelt sich bei dem Widerspruch zwischen der Position Baberowskis und Fritzes also augenscheinlich um keine Marginalie für die Möglichkeiten zur Erklärung des verbrecherischen Charakters totalitärer Systeme. Die Herausgeber des Forums hielten es deswegen für gerechtfertigt, der Diskussion über diese Ansätze breiten Raum einzuräumen. Zunächst in Form einer ausführlichen Replik Fritzes auf Babe­rowskis Einwände und schließlich in weiteren Stellungnahmen durch Manfred Zeidler und Leonid Luks. Ausdrücklich wird eine Fortsetzung dieser Debatte angestrebt. Beiträge werden an die Redaktionsadresse, am besten per E-Mail (zimos@ku.de) erbeten.

    In der Sektion „Zeitgeschichte" wirft Helmut Altrichter auf Grundlage nunmehr zum Großteil erstmals veröffentlichter Dokumente aus russischen Archiven Licht auf die Bewertung der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland durch die maßgeblichen sowjetischen Stellen. Die anfängliche Strategie Moskaus, trotz wiederholter Ausfälle gegen den Kommunismus, zwischen nationalsozialistischer Außen- und Innenpolitik zu unterscheiden, erklärt Altrichter unter anderem mit einer Mischung aus allgemeiner Unterschätzung der nationalsozialistischen Bewegung und einer Enthaltsamkeit aufgrund der Einsicht in die eigene Ohnmacht.

    Ausgehend von Rodčenkos Photographie „Regina Lemberg" geht der Aufsatz von Anne Rennert mit kunsthistorischem Interesse einer bemerkenswerten Dreierkonstellation zu Rodčenko, Majakovskij und Lenin nach.

    In diesem Heft setzen wir außerdem den Briefwechsel zwischen Simon Frank und Ludwig Binswanger für die Jahre 1938-1941 fort.


    [1] Fritze, Lothar: Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich. München 2012.

    [2] Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. Bonn 2007, S. 15.

    [3] Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. München 2012, S. 11.

    I. Der lange Abschied vom totalitären Erbe – die deutsche, die russische und die polnische Vergangenheitsbewältigung im Vergleich (internationale und interdisziplinäre Tagung des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien) – Mai 2012

    Einleitung

    Totalitäre Regime prägten die Geschichte des 20. Jahrhunderts so tief, dass wir bis heute die Folgen des Zivilisationsbruchs verspüren, die sie verursacht haben.

    Traumatische Erinnerungen, die diese Regime im kollektiven Gedächtnis der betroffenen Nationen hinterlassen hatten, mussten und müssen aufgearbeitet werden. Ohne diese Trauerarbeit verursachen die unbewältigten Traumata tiefe Schäden sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bewusstsein.

    Der westliche Teil unseres Kontinents hatte viel Zeit, um sich mit dieser Trauerarbeit zu befassen. Sie begann im Grunde schon am 8. Mai 1945, also am Tag des Zusammenbruchs des Dritten Reiches. Im europäischen Osten hingegen fanden vergleichbare Prozesse, wenn man von einer kleinen Schar der Dissidenten absieht, erst etwa vier Jahrzehnte später statt.

    Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass maßgebliche Teile der politischen Klasse der „zweiten deutschen Demokratie sich im Gegensatz zu ihren Vorgängern in der Weimarer Republik der deutschen Vergangenheit stellten und die Verfechter geschichtlicher Mythen, die die politische Kultur der „ersten deutschen Demokratie vergiftet hatten, an den Rand des politischen Diskurses drängten.

    Das Modell der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung gilt als Vorbild für viele postautoritäre bzw. posttotalitäre Transformationsstaaten in Ost und West. Dies ungeachtet mancher Schattenseiten des langwierigen Prozesses der deutschen Vergangenheitsbewältigung nach der „Stunde Null" (Verdrängungsmechanismen, Schlussstrich-Forderungen usw.).

    Obwohl deutsche, genauer gesagt westdeutsche Vergangenheitsdebatten bereits gründlich untersucht wurden, wäre es wichtig, das bundesrepublikanische Modell der Auseinandersetzung mit der totalitären Vergangenheit in einen breiteren Zusammenhang zu stellen, um das Besondere dieses Modells herauszuarbeiten. Der Vergleich der Spezifika der deutschen Erinnerungskultur mit derjenigen der osteuropäischen Länder stellte eines der Anliegen der Eichstätter Konferenz dar, deren Beiträge wir in diesem Forum-Heft abdrucken.

    Die Konferenz befasste sich auch mit dem sogenannten „Kampf der Erinnerungen", der zur Zeit zu einem wichtigen Desiderat der Forschung gehört.

    Akut wurde diese Problematik nach der Wende von 1989 als sich die Völker der „vergessenen östlichen Hälfte Europas, die bis dahin von dem allgemeineuropäischen Diskurs abgeschnitten waren, zu Wort meldeten und ihre eigenen Interpretationen der Vergangenheit anboten, die von denjenigen der Westeuropäer vielfach abwichen. Was die östliche Hälfte des Kontinents von der westlichen unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Osten (auch der Osten Deutschlands) im Gegensatz zum Westen nicht nur eine, sondern zwei Varianten des Totalitarismus erleiden musste. So ist der Vergleich zwischen der nationalsozialistischen und der stalinistischen Terrorherrschaft hier nicht nur Gegenstand historischer Diskurse, sondern auch Bestandteil des Kollektivgedächtnisses. Mit dieser Besonderheit der östlichen Erinnerungskultur, mit der „doppelten Vergangenheitsbewältigung wird jetzt das vergrößerte Europa konfrontiert, wobei viele Irritationen und Missverständnisse entstehen. Die Besonderheiten dieses östlichen kollektiven Gedächtnisses müssen nun im gesamteuropäischen Diskurs stärker berücksichtigt werden als bisher. Aber diese Würdigung der Sicht des Anderen darf nicht eingleisig sein. Auch der Osten muss sich gegenüber dem Westen, z. B. gegenüber den Ergebnissen der westlichen Totalitarismus- und Holocaustforschung öffnen, die im sowjetischen Machtbereich jahrzehntelang tabuisiert war. Die Analyse der Folgen dieser Tabuisierung, die sich nicht nur in der Erinnerungskultur der Osteuropäer, sondern auch der Ostdeutschen widerspiegelt, wurde ebenfalls zum Gegenstand der Konferenz.

    Der ost-westliche „Kampf der Erinnerungen" lässt sich an einem besonders spektakulären Beispiel verdeutlichen – an den deutsch-polnischen Irritationen der letzten Jahre. Viele Beobachter führen diese Spannungen auf den europaskeptischen und ethnozentrischen Kurs der Regierung der Brüder Kaczyński zurück (2005-2007). Diese Erklärung greift aber zu kurz. Deutsch-polnische Irritationen kamen sowohl vorher als auch nachher auf. Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Bundesrepublik nach der Wende von 1989 zum wichtigsten Anwalt der polnischen Interessen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und zum Motor der Osterweiterung der EU wurde.

    Nach der Befreiung Polens von der Moskauer Kuratel dachten viele, sowohl auf der polnischen als auch auf der deutschen Seite, nun werde eine deutsch-polnische Aussöhnung nach dem Vorbild der deutsch-französischen stattfinden. In Wirklichkeit verlief der deutsch-polnische Annäherungsprozess nach einem ganz anderen Szenario als der deutsch-französische. Die Suche nach den Gründen für diese unterschiedlichen Formen der Vergangenheitsbewältigung gehörte zu einem der zentralen Anliegen der Konferenz.

    Zum Kampf der Erinnerungen gehören auch unterschiedliche Bewertungen des sowjetischen Sieges über das Dritte Reich einerseits in Russland andererseits in vielen kleineren Staaten des ehemaligen Ostblocks. Es gehörte zu den größten Paradoxien dieses Sieges, dass die Rote Armee, die zum Überleben der vom NS-Regime besetzten Nationen entscheidend beitrug, zugleich auch der stalinistischen Tyrannei, die die Freiheitsbestrebungen in ihrem Machtbereich (auch in der Sowjetunion selbst) mit aller Kraft zu unterbinden suchte, das Überleben ermöglichte. Diese Paradoxie fasste der polnische Publizist Jerzy Pomianowski vor einigen Jahren folgendermaßen zusammen: „Die Rote Armee hat zwar [die Völker Osteuropas vor der Hitlerschen Tyrannei] gerettet, aber nicht befreit".[1]

    Auf diese Paradoxie des sowjetischen Sieges von 1945 gingen einige Referenten ebenfalls ein.

    In ihrer russischen Sektion befasste sich die Tagung mit der Frage, warum der Prozess der Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit, der in Russland zur Zeit der Gorbačevschen Perestrojka so erfolgreich begonnen hatte, nach der Auflösung der Sowjetunion ins Stocken geriet. Die Kritiker der Stalinschen Despotie scheinen die Initiative im innerrussischen Diskurs verloren zu haben. Noch vor zwei Jahrzehnten verhielten sich die Dinge genau umgekehrt. Damals standen die Apologeten Stalins mit dem Rücken zur Wand. Und es war gerade die immer radikaler werdende Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen, die der Perestrojka eine beispiellose Dynamik verliehen hatte. Warum verloren maßgebliche Teile der russischen Gesellschaft ihr Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit ausgerechnet nach der Entmachtung des kommunistischen Regimes? Hat dies vielleicht mit dem „postrevolutionären Syndrom" zu tun? Der britische Sowjetloge E. H. Carr hat dieses Syndrom folgendermaßen beschrieben: Jedem revolutionären Bruch mit der Vergangenheit folge nach einer gewissen Zeit die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der geschichtlichen Kontinuität. Diese Beobachtung Carrs scheint auch für das postsowjetische Russland zutreffend zu sein. Wie lässt sich sonst die positive Bewertung Stalins durch etwa die Hälfte der Befragten erklären? Viele Schattenseiten des abgewirtschafteten sowjetischen Systems werden verdrängt, Schwierigkeiten des Transformationsprozesses werden nicht als Folge von siebzig Jahren kommunistischer Diktatur verstanden, sondern in erster Linie mit dem neu entstandenen postsowjetischen System assoziiert. Mit all diesen Fragen und Ambivalenzen, die den russischen Diskurs über das totalitäre Erbe auszeichnen, hat sich die Konferenz ausführlich beschäftigt.

    Leonid Luks


    [1] Zit. nach Piławski, Krzysztof: Polska znika z Rosji, in: Przegląd 22.5.2007.

    Johannes Hürter

    Die Wehrmachtsgeneralität und die „Bewältigung" ihrer NS-Vergangenheit

    I.

    Unter den traditionellen Eliten in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die das nationalsozialistische Regime stützten, war die Militärelite die wichtigste und einflussreichste.[1] Sie wurde frühzeitig in die radikalen Pläne Hitlers eingeweiht und spielte im Projekt eines „Großgermanischen Reiches, das nur durch Krieg zu realisieren war, naturgemäß eine zentrale Rolle. Die „Zwei-Säulen-Theorie, nach der die Wehrmacht neben der Partei die tragende Säule des NS-Staates war, diente nicht nur der Propaganda. In ihr spiegelte sich das Programm des Nationalsozialismus, der im Kern eine Ideologie des Kampfes um die „rassisch homogene „Volksgemeinschaft sowie des Krieges um die Vorherrschaft über Europa und um „Lebensraum" im Osten war.

    Die Militärelite wusste von diesen Zielen und ließ sich, trotz sporadischer Skepsis, bereitwillig für sie einspannen. Sie tat dies nicht nur aus Opportunismus, Egoismus, Ruhmsucht oder anderen niederen Motiven, sondern auch, weil Hitlers Politik mit dem in dieser Elite vorherrschenden Denken in rassistischen, machtpolitischen und militaristischen Kategorien kompatibel war. Auch ohne „Nazis zu sein, stellte die überwältigende Mehrheit der Generalität ihr professionelles Können bis zuletzt in den Dienst der NS-Diktatur – die Offiziere des „20. Juli waren eine Ausnahme und letztlich völlig isoliert. Damit trugen die insgesamt 3.191 Generäle und Admiräle der Wehrmacht ganz entscheidend zu den Erfolgen und zur Widerstandskraft der NS-Schreckensherrschaft bei, umso mehr, da Hitler auf ihre Dienste angewiesen war – schließlich konnte er nicht ohne Weiteres eine neue Militärelite aus dem Boden stampfen.

    Der Katalog des Mitwirkens an einer verbrecherischen Politik ist lang und stellt alles in den Schatten, was von den übrigen alten Eliten bekannt ist. Die Generalität, besonders die Wehrmachtsführung (OKW), die Heeresleitung (OHL) und die oberste Truppenführung der Oberbefehlshaber von Heeresgruppen und Armeen, beteiligte sich maßgeblich an der Planung, Vorbereitung und Durchführung von völkerrechtswidrigen Angriffskriegen, namentlich des rassenideologischen Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion.[2] Sie verantwortete Kriegsverbrechen wie den Mord an den politischen Kommissaren der Roten Armee, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, die Exzesse im Partisanenkrieg, den Terror einer rücksichtlosen Besatzungspolitik. Sie begünstigte und unterstützte die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in der besetzten Sowjetunion und damit die erste Etappe des Holocaust. Und sie zeichnete in ihrem professionellen Kernbereich, der operativen Kriegführung, für zahlreiche Fehlentscheidungen mit katastrophalen Folgen verantwortlich. Zu nennen sind hier etwa die auch militärisch verfehlte Planung des „Unternehmens Barbarossa" gegen die Sowjetunion und das nicht nur riskante, sondern sinnlose Vorantreiben vollkommen erschöpfter Truppen auf Moskau im Spätjahr 1941.

    Der Umfang der von der Militärelite verantworteten oder mitverantworteten Untaten und Fehlleistungen legt nahe, dass die Generäle eigentlich in Sack und Asche hätten gehen müssen, als das Projekt, an dem sie mitgewirkt hatten, so verheerend gescheitert war. Ihre Beteiligung an Krieg und Verbrechen zwang zur individuellen und internen ebenso wie zur öffentlichen und justiziellen Aufarbeitung des Geschehenen. Für die Generalität begann dieser Prozess in der Kriegsgefangenschaft, also teilweise schon vor 1945. Die von den Amerikanern und Briten abgehörten Gespräche deutscher Generäle sowie die Aufzeichnungen aus den Gefängniszellen zeigen, dass es in den ersten Monaten nach der Gefangennahme tatsächlich viel Unsicherheit und auch Nachdenklichkeit unter den höchsten Offizieren gab, nicht nur individuell, sondern auch in der Gruppe.[3] Die große Mehrheit der Generäle war zwischen der Erkenntnis, einer schlechten Sache gedient zu haben, und dem Bedürfnis, diesem wohl wichtigsten Abschnitt ihrer Biografie dennoch einen Sinn zu geben, hin und her gerissen. Ein General brachte die gedrückte Stimmung auf den Punkt, als er in Gefangenschaft seinem Tagebuch anvertraute: „Durch Erzählungen usw. beginnt auch mein Glaube an die Person von Hitler zu wanken. Oder war, wie wir bisher glaubten, doch nur seine Umgebung schuldig? Furchtbar, wenn man an allem irre werden soll, dem man bisher geglaubt und gedient hat."[4]

    Diese Stimmung suchte sich in gemeinsamen Reflexionen über das eigene Tun sowie über das Für und Wider der NS-Zeit Luft zu verschaffen. Dabei gab es hin und wieder sogar Ansätze von zaghafter Selbstkritik. Doch war dies nur eine Momentaufnahme aus internen Gesprächen, die ohne die „Lauschangriffe der Alliierten nicht überliefert wären. Dasselbe gilt für die partielle Nähe und Affinität zum NS-Regime und seinem „Führer, die in den vermeintlich vertraulichen Unterredungen deutlich wurden. So beendeten zum Beispiel die zwei Spitzenmilitärs Generaloberst Heinz Guderian und Generalfeldmarschall Wilhelm von Leeb im Juli 1945 – also zu einem Zeitpunkt, als die Ausmaße des Holocaust und der anderen Verbrechen längst kein Geheimnis mehr waren – einen langen Meinungsaustausch über die Vorzüge und Nachteile der NS-Herrschaft mit der bemerkenswerten Übereinstimmung: „GUD[ERIAN]: Die grundlegenden Prinzipien waren gut. L[EEB]: Das ist wahr."[5]

    Solche Belege von Affirmation, die ein Licht auf die Gründe für die fast reibungslose Einordnung der Militärelite in Hitlers Politik werfen, waren allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Die unsichere und häufig auch uneinige Bewertung der jüngsten Vergangenheit, die sich in manchen privaten Gesprächen und Aufzeichnungen kurz vor und nach dem Zusammenbruch zeigte, sollte in den öffentlichen Diskursen und vor Gericht einer geschlossenen Abwehrhaltung weichen. Mit den Worten eines abgehörten Generals: „Bei allem was ich aussage, habe ich mir vorgenommen, [es] immer so zu drehen, dass das Offizierskorps reingewaschen wird. Rücksichtslos! Rücksichtslos!"[6]

    II.

    Dass sich die Generalität für ihr Verhalten in der NS-Zeit zu rechtfertigen, ja zu verantworten hatte, war jedem bewusst. Nicht wenige befürchteten sogar ein beispielloses Strafgericht, eine Prognose, die zur gedrückten Stimmung beitrug. Tatsächlich hatte Stalin auf der Konferenz in Teheran empfohlen, „wenigstens 50.000, vielleicht 100.000" deutsche Offiziere hinzurichten.[7] Die Westalliierten gingen auf diesen Vorschlag nicht ein, doch auch sie wollten zumindest das höhere Berufsoffizierskorps für die von der Wehrmacht begangenen Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.

    Es ist erstaunlich, wie schnell sich diese Funktionselite, die sich in den zwölf Jahren der NS-Herrschaft nicht ein einziges Mal zum geschlossenen Auftreten gegen Hitlers Politik hatte aufraffen können, auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie einigte. Dabei wurden sie tatkräftig von ihren deutschen Strafverteidigern unterstützt, besonders von Hans Laternser, der es geschickt verstand, ein umfassendes Exkulpationsnetzwerk aufzubauen.[8] Im November 1945 legte der ehemalige Oberbefehlshaber des Heeres Walther von Brauchitsch gemeinsam mit dem früheren Generalstabschef Franz Halder und den Generälen Erich von Manstein (sonst übrigens ein Intimfeind Halders), Walter Warlimont und Siegfried Westphal eine Denkschrift über „Das Deutsche Heer von 1920-1945 vor, die den Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg davon überzeugen sollte, dass das Heer und insbesondere sein Generalstab keine verbrecherische Organisation gewesen seien.[9] Die Denkschrift verwies auf die angeblich unpolitische Haltung des Offizierskorps und konstruierte eine Dichotomie: hier die so fähige wie „anständig und „ritterlich" gebliebene Militärelite, dort der so fahrlässige wie verbrecherische Diktator und seine SS-Schergen. Abweichende, selbstkritische Stimmen aus der Generalität waren die Ausnahme; sie wurden von den Trägern des entlastenden Leitnarrativs kritisiert, isoliert und stigmatisiert.[10]

    Ebenso erstaunlich ist, wie schnell die Generäle zu ihrem Selbstbewusstsein zurückfanden. Daran hatten die Westalliierten entscheidenden Anteil. Während die in der Sowjetunion kriegsgefangenen und verurteilten Generäle bis 1955 in Lagern verschwanden und auf die öffentliche Wahrnehmung keinen Einfluss nehmen konnten,[11] gelang ihren Kameraden in den westlichen Besatzungszonen allmählich der erstaunliche Rollenwechsel von Tätern zu Opfern und Verbündeten. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess mit den Todesurteilen gegen die Generäle Wilhelm Keitel und Alfred Jodl schien noch auf das befürchtete harte Strafgericht gegen die Wehrmacht zu deuten, hatte aber aus Sicht der Generalität immerhin die positive Seite, dass kein Teil der militärischen Führung zur verbrecherischen Organisation erklärt wurde und man die Schuld auf das ungeliebte OKW und sein gerade hingerichtetes Führungsduo Keitel und Jodl schieben konnte. Zufrieden konnte Manstein, einer der Autoren der Nürnberger Generalsdenkschrift, im Oktober 1946 an seine Frau schreiben: „Dass in Nürnberg der Generalstab nicht als verbrecherisch erklärt worden ist, war mir eine große Genugtuung. So habe ich durch die zehn Monate Mitarbeit an der Verteidigung doch der Armee, der meine Lebensarbeit galt, noch einen letzten Dienst erweisen können. Dieser Kampf für ihre Ehre war mit so heißem Herzen geführt wie wohl keiner vorher."[12]

    In den amerikanischen Nachfolgeprozessen ging der aufklärerische und justizielle Schwung dann vollends verloren. Zwar wurden im Februar (Fall 7: „Geiselmord-Prozess) und Oktober 1948 (Fall 12: „OKW-Prozess) in Nürnberg insgesamt 19 Generäle zu Haftstrafen zwischen drei und 20 Jahren verurteilt, bei vier Freisprüchen, aber die Nachforschungen der Richter und Staatsanwälte nach der Beteiligung an Kriegsverbrechen wurden immer oberflächlicher, und der Holocaust blieb nun weitgehend ausgeklammert.[13] Für die Angeklagten unangenehmer, doch im Ergebnis vergleichbar verliefen die wenigen britischen Prozesse, von denen jene in Venedig gegen Albert Kesselring und in Hamburg gegen Erich von Manstein die bekanntesten waren.[14] Das Todesurteil gegen Kesselring im Mai 1947 wurde bald in eine Haftstrafe umgewandelt, und auch die Verurteilung Mansteins zu 18 Jahren Haft im Dezember 1949 hatte faktisch keinen Bestand.

    Wichtiger als die Prozesse selbst waren die Solidarisierungseffekte, die sie auslösten. Nicht nur in Deutschland wuchs die Empörung über die „Siegerjustiz", sondern auch in den USA und in Großbritannien wurde die Strafverfolgung von deutschen Offizieren angesichts des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Zahlreiche angelsächsische Politiker, Militärs und Militärpublizisten, die das militärische Können der Wehrmacht bewunderten und sich ihren ehemaligen Kriegsgegner nicht durch die zunehmend als lästig empfundenen Hinweise auf Verbrechen schlecht reden lassen wollten, setzten sich für die Angeklagten und dann für die Verurteilten ein. Symptomatisch war das Beispiel des in England hoch geschätzten Erich von Manstein, der im Hamburger Prozess von zwei britischen Rechtsanwälten, den Labour-Abgeordneten Reginald D. Paget und Samuel C. Silkin, nicht nur aus Pflicht, sondern teilweise auch aus Überzeugung verteidigt wurde und, geschickt organisiert vom bekannten Militärschriftsteller Basil Liddell Hart, zahlreiche prominente Fürsprecher fand – bis hin zu Winston Churchill, der auch für Kesselring und andere inhaftierte Generäle eintrat.

    Kaum waren die Urteile gesprochen, begann die Kampagne für eine vorzeitige Haftentlassung. In der jungen Bundesrepublik ergriff neben dem Netzwerk ehemaliger Wehrmachtsgeneräle eine Art Große Koalition von Konrad Adenauer bis Kurt Schumacher Partei für „unsere Soldaten", getragen von einem vielstimmigen Chor des öffentlichen Lebens. In den alliierten Militärgefängnissen von Landsberg (amerikanisch) und Werl (britisch) gaben sich die prominenten Unterstützer die Klinke in die Hand. Das publizistische Trommelfeuer wurde von der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT geleitet, wo sich besonders Marion Gräfin Dönhoff für eine Rehabilitierung der verurteilten Generäle stark machte. Die Forderung nach einem „Schlussstrich" unter das Kapitel der strafrechtlichen Verfolgung wurde geschickt mit der Diskussion um einen westdeutschen Verteidigungsbeitrag innerhalb der NATO verbunden.[15] Adenauers militärpolitische Berater, allesamt ehemalige Wehrmachtsoffiziere, nannten in der „Himmeroder Denkschrift vom Oktober 1950 als Vorbedingungen für die Beteiligung früherer deutscher Soldaten am Aufbau neuer Streitkräfte: erstens ihre vollständige Rehabilitierung, etwa durch Ehrenerklärungen, und zweitens die Freilassung der inhaftierten Kameraden, sofern sie „nur auf Befehl gehandelt und sich nicht „nach alten deutschen Gesetzen" schuldig gemacht hätten.[16]

    Die Kampagne hatte Erfolg. Die erste Bedingung der „Himmeroder Denkschrift" und zahlreicher anderer Debattenbeiträge wurde weitgehend erfüllt, als General Dwight D. Eisenhower, der neue amerikanische Oberkommandierende in Europa und spätere 34. US-Präsident, am 23. Januar 1951 bei einem Deutschlandbesuch nach Gesprächen mit Adenauer und den ehemaligen Wehrmachtsgenerälen Hans Speidel und Adolf Heusinger öffentlich erklärte:

    Wie ich schon gestern abend dem Bundeskanzler und anderen deutschen Herren gesagt habe, weiß ich jetzt, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen den deutschen Soldaten und Offizieren einerseits und Hitler und seinen verbrecherischen Helfern andererseits besteht. Was mich betrifft, so bin ich nicht der Ansicht, daß der deutsche Soldat als solcher seine Ehre verloren hätte.[17]

    Eine weitere richtungweisende Ehrenerklärung, wenn auch nur für die Soldaten, „die sich nichts hatten zuschulden kommen lassen", folgte kurz darauf am 5. April 1951 durch Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag.[18]

    Auch der zweiten Forderung der ehemaligen und sich teilweise neu formierenden Militärelite sowie ihrer nationalen und internationalen Unterstützer wurde nachgegeben. Eine besondere Signalwirkung hatten dabei die vorzeitige Haftentlassung Kesselrings im Oktober 1952 und mehr noch diejenige Mansteins im Mai 1953, ein „geschichtspolitisches Signal und erinnerungskulturelles Ereignis" ersten Ranges.[19] Im Juli 1953 kam mit Nikolaus von Falkenhorst der letzte Wehrmachtsgeneral aus britischem Gewahrsam frei. Zur Erleichterung beider Seiten schien damit die Kriegsverbrecherdebatte bilateral im Sinne der deutsch-britischen Verständigung und künftigen Waffenbrüderschaft beendet zu sein. Eine entsprechende Klärung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses ließ nicht lange auf sich warten. Zwischen 1951 und 1954 wurden alle noch inhaftierten, von amerikanischen Militärtribunalen verurteilten Generäle aus der Haft entlassen, die meisten von ihnen weit vor der vollständigen Verbüßung ihrer ohnehin recht milde bemessenen Strafe.

    III.

    Das erneuerte Selbstbewusstsein der NS-Täter innerhalb der Militärelite wurde auch dadurch gestärkt, dass die Westalliierten sofort nach dem Krieg auf ihre fachliche Expertise zurückgriffen. Von 1946 bis 1961 beschäftigte die US-Army in ihrer Historical Division, Abteilung Operational History (German) Section, über dreihundert ehemalige Wehrmachtsoffiziere, ganz überwiegend Generäle und hohe Generalstabsoffiziere, die in über zweieinhalbtausend Studien auf ca. 200.000 Seiten die Geschichte des Krieges aus ihrer Sicht darstellen durften.[20] Die amerikanischen Streitkräfte interessierten sich zu Beginn des Kalten Krieges besonders für die Erfahrungen der Deutschen im Kampf gegen die Rote Armee. Umso mehr konnten sich die deutschen Mitarbeiter als Offiziere profilieren, die im Osten beinahe siegreich gewesen wären, die also wussten, wie es ging.

    Die Leitung der deutschen Projektgruppen übernahmen die Generäle Georg von Küchler und Franz Halder – bezeichnend war, dass sich beide weiterhin mit ihren letzten Diensträngen anreden ließen: Herr Generalfeldmarschall, Herr Generaloberst. Ihrem Renommee bei den amerikanischen Auftraggebern und unter ihren Kameraden tat es keinen Abbruch, dass Küchler als Oberbefehlshaber der 18. Armee (1941/42) und der Heeresgruppe Nord (1942-1944) sowohl bei der Belagerung Leningrads als auch im deutschen Besatzungsgebiet vor dieser Millionenstadt Hitlers brutale „Vernichtung-durch-Hunger"-Strategie umgesetzt hatte[21] und Halder, der Chef des Generalstabes des Heeres 1938-1942, als williges Werkzeug seines „Führers" für zahlreiche, teils verhängnisvolle, teils verbrecherische Entscheidungen mitverantwortlich war.[22]

    Küchler, der 1946/47 das Historical-Division-Projekt im Kriegsgefangenenlager Garmisch leitete, dann aber in Nürnberg (Fall 12) vor Gericht stand und zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde (1952 vorzeitige Haftentlassung), gab im März 1947 verbindliche Richtlinien für die Arbeit der Militärelite an ihrer jüngsten Geschichte aus. Einige Zitate: „Wir wollen nicht amerikanische, sondern deutsche Kriegsgeschichte schreiben." „Es werden die deutschen Taten, vom deutschen Standpunkt gesehen, festgelegt und dadurch unseren Truppen ein Denkmal gesetzt. „Es darf […] keine Kritik an Führungsmaßnahmen geübt werden, es sind nur Tatsachen zu schildern. „Es muss unter allen Umständen vermieden werden, daß irgend eine führende Persönlichkeit, sei es Vorgesetzter, Nachbar oder Untergebener, irgendwie belastet wird. „Die Leistungen unserer Truppen sind gebührend zu würdigen und herauszustellen.[23] Es ist bemerkenswert, dass diese Art manipulierte und manipulative Militärgeschichtsschreibung von den Amerikanern gefördert und bezahlt wurde; sie gewann großen Einfluss auf die Deutung des Zweiten Weltkriegs.

    Der frühere Generalstabschef Halder, seit 1947 Projektleiter im Lager Neustadt (Hessen), dann in Königstein im Taunus, blieb anders als Küchler von der alliierten Militärjustiz unbehelligt und profitierte sogar vom Schutz der US-Army, die ihn so lange für „unabkömmlich" erklärte, bis die deutsche Justiz das Berufungsverfahren gegen das Entlastungsurteil der Münchner Spruchkammer ad acta gelegt hatte[24]. Halder arbeitete bis 1961 für die Historical Division und erhielt zum Abschied für seine Verdienste die höchste amerikanische Auszeichnung für ausländische Zivilangestellte, den Meritorious Civilian Service Award. Er konnte sich mit amerikanischer Rückendeckung zum Doyen der Militärelite a. D. und Lordsiegelbewahrer der Legende von der „sauberen Wehrmacht" aufschwingen. Ältere Kollegen des Instituts für Zeitgeschichte können sich noch gut daran erinnern, wie Halder in den 1950er Jahren im Münchner Institut auftauchte, um auch der jungen Zeitgeschichtsforschung das quasi offiziöse Bild des deutschen Generalstabs von der eigenen Geschichte zu vermitteln.

    Die von Halder und gleichgesinnten höheren Offizieren vertretenen Deutungsmuster lagen ganz auf der Linie der Generalsdenkschrift von 1945. Ihre geradezu gesetzmäßigen Vorgaben waren:[25] 1. Die Militärelite war fachlich herausragend und moralisch „anständig", außerdem unpolitisch. 2. Sie wurde, genauso wie

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