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Die kleine Garbo
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Die kleine Garbo

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About this ebook

Hoederer, ein Altachtundsechziger überfällt die Bank einer kleinen Stadt. Das Glück stellt sich dem lebenslangen Pechvogel auch diesmal nicht auf seine Seite: Sein Warnschuß tötet unglücklich eine Frau. Auf seiner Flucht entwendet er ein Auto: Was Hoederer nicht weiß, ist, daß er jetzt auch zum Entführer geworden ist, denn im Fond des Wagens versteckt sich ein Mädchen im Engelskostüm: Malu, mit ihren zwölfeinhalb Jahren bereits ein berühmter Fernsehstar; sie war mit ihrem Chauffeur zu einem nächtlichen Dreh an einem See im Wald nördlich von Berlin unterwegs. Dort wartet das Team, insbesondere die resolute Produzentin und ihr Handlangerregisseur ungeduldig auf das Eintreffen des Mädchens. Hoederer faßt schon wieder einen fatalen Entschluß: Anstatt die Kleine freizulassen, verlangt er Lösegeld für die Freilassung des Mädchens.

Auf der Suche nach einem geeigneten Versteck gelangen sie in einen tief verschneiten Wald. Und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen der kleinen Geisel, die bald die Situation in die Hand nimmt, und ihrem verzweifelten - letztlich jedoch gutherzigen Entführer. Doch reichen die zwölf Stunden bis zur Lösegeldübergabe mit der "kleinen Garbo", wie er sie nennt, aus, um sein versäumtes Leben nachzuholen?
LanguageDeutsch
Release dateNov 11, 2013
ISBN9783627021306
Die kleine Garbo

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    Die kleine Garbo - Bodo Kirchhoff

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    DIE KLEINE GARBO

    Hoederer, ein vom Pech verfolgter Altachtundsechziger, überfällt die Bank einer kleinen Stadt. Das Glück stellt sich dem lebenslangen Pechvogel auch diesmal nicht auf seine Seite: Sein Warnschuss tötet unglücklich eine Frau. Auf seiner Flucht entwendet er ein Auto: Was Hoederer nicht weiß, ist, dass er jetzt auch zum Entführer geworden ist, denn im Fond des Wagens versteckt sich ein Mädchen im Engelskostüm: Malu, mit ihren zwölfeinhalb Jahren bereits ein berühmter Fernsehstar; sie war mit ihrem Chauffeur zu einem nächtlichen Dreh an einem See im Wald nördlich von Berlin unterwegs. Dort wartet das Team, insbesondere die resolute Produzentin und ihr Handlangerregisseur ungeduldig auf das Eintreffen des Mädchens.

    Hoederer faßt schon wieder einen fatalen Entschluß: Anstatt die Kleine freizulassen, verlangt er Lösegeld für ihre Freilassung.

    Auf der Suche nach einem geeigneten Versteck gelangen sie in einen tief verschneiten Wald. Und es entspinnt sich ein Gespräch zwischen der kleinen Geisel, die bald die Situation in die Hand nimmt, und ihrem verzweifelten letztlich jedoch gutherzigen Entführer. Doch reichen die zwölf Stunden bis zur Lösegeldübergabe mit der »kleinen Garbo«, wie er sie nennt, aus, um sein versäumtes Leben nachzuholen?

    PRESSESTIMMEN

    »Es ist eine Lust durch die Seiten zu eilen.«

    HAMBURGER ABENDBLATT

    »Bodo Kirchhoff ist mit Die kleine Garbo eine Gratwanderung zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Krimi und Klamotte geglückt, kurz: ein boshafter kleiner ›Schundroman‹ – erschienen ist er in der Frankfurter Verlagsanstalt.«

    BAYERISCHER RUNDFUNK

    »Der Entführer und sein Engel – das sind die zwei Seiten der gleichen Sehnsucht nach dem Glück. Unter widrigsten Umständen im Widerschein des Anderen darauf zu hoffen, ist Stoff für Träume. […] Die kleine Garbo ist spannende Lektüre – und nicht so einfach, wie sie scheint.«

    WDR3

    »Das Buch trifft gleichzeitig populären Geschmack und befriedigt intellektuelle Ansprüche. Es ist, als hätte Kirchhoff ernst genommen, was Karl May 1910 vom guten Autor forderte: ›Schreiben wir nicht wie die Langweiligen, die man nicht liest, sondern schreiben wir wie die Schundschriftsteller, die es verstehen, Hunderttausende und Millionen Abonnenten zu machen. Aber unsere Sujets sollen edel sein, so edel, wie unsere Zwecke und Ziele.‹«

    FRANKFURTER RUNDSCHAU

    Bodo Kirchhoff

    Die kleine Garbo

    Roman

    fva_Logo_Schrift.tif

    für Sophia

    1

    Nachts, getrieben von Hunger, ohne jede Idee, es könnte anderswo besser sein als in ihrer gewohnten Umgebung, waren sie über die Grenze gekommen, durch niederen Birkenwald, gescheckt wie ihr Fell, durch Kanäle und Flüsse, kaum den Kopf über Wasser, vielleicht auch auf Eisschollen, stehend ergeben, niemand konnte Genaueres sagen; nur daß sie hier wieder Fuß gefaßt hatten, war sicher. Man fand ihre Spuren im Tagebausand und um die einsamen Seen der Gegend, man stieß inmitten von Dörfern auf Losung, knochenhaltig, fellumsponnen; man hörte ihr Klagen, wenn sie Anschluß suchten, und sei es an Hunde, auf- und abschwellend wie Gesang. Und auf die Hinweise folgten bald die Gerüchte – in Erholungsgebieten wollte man Teile von Wild entdeckt haben, am Rande von Schrebergärten den Kopf eines Pudels, von verkleinerten Schafherden gar nicht zu reden; unschöne Einzelfälle, wie ihre Fürsprecher sagten, was die Gegner vor Gericht ziehen ließ, das Abschußrecht zu erstreiten, und zunehmend Neugierige auf den Plan rief. Wanderer harrten über Tage im Dickicht aus und bekamen höchstens von weitem eins der Tiere zu sehen, wie es da, steckenbeinig, graubraun, ein Phantom, stur seiner Wege ging, im geschnürten Trab, um plötzlich, ganz Nase, ganz Ohr, innezuhalten und mit einem Satz um sich selbst im Gebüsch zu verschwinden. Doch kamen nicht nur Wanderer, die im Grunde das eigene Herzklopfen suchten, es kamen auch andere.

    *

    Mitte des vergangenen, langen Winters fuhr ein Filmteam in die fragliche Gegend, mehr aus Instinkt als aus Neugier, einem ähnlichen Trieb folgend wie die Wölfe, nämlich Beute zu machen, die Beute der Bilder. Auf dem Höhepunkt von Schnee und Eis schlug man an einem einsamen Waldsee, dem einsamsten, wie die leitende Producerin meinte, ein Lager auf, rund um ein riesiges Wohnmobil, das schon Tom Cruise nach einer Kampfszene für M:I-2 genutzt haben soll, ganz allein, während es jetzt, für einige Stunden, gleich mehreren diente. Der Star des Films belegte den komfortabelsten Raum, mit Bett und Dusche; für die zwei Nebendarsteller gab es ein Art Lounge, wo sie sich die Wartezeit mit Fernsehen vertrieben, und die Producerin hatte in dem Wohnmobil ein Büro.

    Und da stand sie im Mantel am Fenster und sah auf den gefrorenen See mit einem Lichtkran am Ufer und gab schon ihr drittes Telefoninterview an dem Tag. Sie sprach über Filmtitel, die kurz sein müßten, kurz kurz kurz, ehe sie auf den Film selbst kam: ein Mystery drama, Engelskuß, ihre Idee, neunzig Minuten, Sonntagabendprogramm, und mit der Kleinen – so nannte sie ihren Star – bestens besetzt. Dem folgte noch etwas Klatsch, dann war das Interview beendet, sie verließ ihr Büro. Es dunkelte schon, obwohl es kaum vier war, und bei jedem Schritt drang die Kälte durch ihren hauptsächlich weichen Mantel. Neuer Schnee war zum Glück erst für den Abend gemeldet, also dürfte die Kleine, noch unterwegs zum Drehort, rechtzeitig eintreffen. Wie immer vor Nachtaufnahmen war die Producerin unruhig; sie wußte, was auf sie zukam – selbst eine leichte Geburt könnte nicht schlimmer sein.

    *

    Das Haus war das letzte in der Straße, und im Winter hob es sich schon nachmittags von den schneeverkrusteten Äckern am Ortsende ab, einem Ort unweit der Wälder, durch die wieder Wölfe zogen, erwiesenermaßen. Bis vor kurzem war in dem Haus noch ein Videoladen, aber solche Läden sind ja etwas aus der Mode gekommen. Jetzt gab es dort eine Bankfiliale, die einzige weit und breit; doch manchmal kam noch wer, der einen Film leihen wollte und seinen Irrtum erst merkte, wenn er dort nur auf Mütter mit Kind oder alte Frauen mit Sparbuch traf.

    Und auch an diesem Nachmittag, kurz vor Schließung der Filiale, betrat jemand den Schalterraum, der nichts einzahlen oder abheben wollte, sondern gleich zur Wandheizung neben einer Vitrine mit Goldmünzen ging, um sich an den Rohren zu wärmen. Er trug eine Lederjacke mit Riemen und Polstern, wie man sie früher allein bei Motorradfahrern sah (früher, als alles noch einen ernsteren Hintergrund hatte, auch und gerade Lederjacken), und in den Händen hielt er eine Wollmütze, die er beim Betreten der Bank abgenommen hatte. Sein Kopf war mehr ein Schädel, mit dichtem Haar, das ihm über die Ohren fiel, und rotbraunen Augen, rot von der Kälte; dazu eine spitze, aber solide Nase und Falten wie Notenlinien auf breiter Stirn – Falten, die mit einem Mal tiefer wurden, während seine Finger, wie von selbst, zwei Löcher in die Wollmütze bohrten.

    Alles Weitere (das eine Kamera an der Decke des Schalterraums festhielt) geschah in kaum mehr als einer Minute. Der Mann streifte sich die Wollmütze mit den Löchern übers Gesicht und griff dabei schon mit der anderen Hand in die Jacke, zog eine Pistole hervor und rief, Das ist ein Überfall! Dann zielte er auf eine der Mütter mit Kind, jedoch nur auf die Stiefel, und befahl dem Kassierer, alles Geld aus der Kasse zu holen. Der Kassierer wollte etwas einwenden – daß sich der Überfall gar nicht lohne –, da feuerte der Maskierte bereits zur Warnung auf einen Geldautomaten; von dessen Kante prallte das Geschoß jedoch ab und flog einer der alten Frauen ins Auge. Sie taumelte und stieß noch ein unverständliches Wort aus, brach zusammen und war tot. Jeder in dem Schalterraum schrie jetzt, auch der Bankräuber. Er übertönte die anderen mit einem Befehl, Alles auf den Boden!, und der Kassierer nahm sämtliches Geld aus dem Fach und schob es durch den Schlitz in der Glaswand, während seine Kollegin mit dem Fuß auf den Alarmknopf trat. Der Mann mit der Wollmaske aber griff sich das Geld, stopfte es in die Jacke mit den Riemen und verließ auch schon, rückwärts, den Raum; erst als er im Freien war, begann er zu rennen. Er rannte zu einem Motorrad, sprang auf und floh damit über die verschneiten Äcker, ein schwankender Schatten.

    *

    Die Kleine saß wie immer hinten im Wagen, so verlangte es ihr komplizierter Vertrag, vor sich den leeren Beifahrersitz mit Bildschirm und Fernsehempfang im Rückteil der Lehne und neben sich einen Hund, der die Maße eines Rauhhaardackels hatte, aber viel ausgefallener war: mit grauem Zottelfell und einem staubwedelartigen Schwanz, der sich beim geringsten freudigen Anlaß propellerartig zu drehen begann – selbst bei einem Handyweckruf, der die Kleine gerade aus dem Halbschlaf geholt hatte, womit für beide, Mensch und Tier, gewissermaßen der Tag anbrach. Sie war sofort hellwach und nahm den Tag auch gleich in Angriff, indem sie das Kostüm für ihre Rolle aus einem Kleidersack holte und mit dem Umziehen begann und dabei noch auf BBC World die laufenden Nachrichten sah – das eine wie das andere auf Rat ihres Agenten: Immer tipptopp am Drehort erscheinen, weil Fotografen kein Erbarmen hätten, und immer gut informiert sein, weil Journalisten gern Trickfragen stellten.

    An diesem Spätnachmittag war das Umziehen allerdings nicht ganz leicht, denn die Kleine spielte keine gewöhnliche Rolle, wie etwa ein künftiges Mordopfer, das ja nur bedauernswert sein mußte, sondern eine recht ungewöhnliche, und als sie das Kostüm endlich anhatte, saß sie ganz vorn auf dem beheizten Sitz, damit die Engelsflügel nicht knickten. Sechs Drehtage lagen schon hinter ihr, alle Innenaufnahmen, und nun ging es im Freien weiter, mit einer Nachtszene an dem Waldsee. Da sollte sie, von einem Kran gehalten, über das Eis schweben, mit natürlichem Lächeln, doch daran dachte sie jetzt noch nicht. Sie konzentrierte sich nur auf die Nachrichten, während vorn am Steuer Herr Weiß saß, ihr Chauffeur oder auch Leibwächter, wie es in den Starmagazinen hartnäckig hieß, nachdem die dümmste aller Zeitungen, das Hurra-Blatt, damit angefangen hatte.

    Herr Weiß war ein einzelgängerischer, ganz in der Musik von gestern, aber ganz in der Technik von heute lebender Mann. Er galt als gebildet, hielt aber die Quellen seiner Bildung im dunkeln; angeblich besaß er ein Abiturzeugnis aus den Sechzigerjahren. Im Gesicht und an den Händen hatte er jedenfalls schon ziemlich viele Altersflecken und dadurch ziemlich wenig Ähnlichkeit mit einem Leibwächter; seinem jungen Fahrgast erschien er sogar rundherum ältlich, wie gewisse Verwandte, die man nur auf Begräbnissen sieht, auch wenn er noch gar nicht so alt sei, wie er oft sagte. Tatsächlich fühlte er sich jünger als sechzig und sammelte nach wie vor die Schlager seiner Schulzeit, und überhaupt alles, was ihn bewegte, einschließlich Arien; ein musikalisches Herzblut, verteilt auf einer Festplatte im Multimediasystem des Wagens. Jeder einzelne Titel aber konnte auch unter fleckige Haut gehen, da lag das Problem, das sich nur mindern ließ, wenn die Verehrung an Stelle des Temperaments trat. Und Der gute Weiß, wie man ihn nannte, verehrte die Kleine mehr als alle anderen Fernsehstars, die er chauffiert hatte, und wußte daher auch immer über ihre jeweilige Rolle Bescheid. Zur Zeit nahm sie als Engel ein Paar oder Pärchen, das eigentlich gar nicht zusammenpaßte, so lange vor den Fallen der Liebe in Schutz, bis die Sache von allein funktionierte. Und der Witz dabei war, daß nur das Publikum den Engel bei der Arbeit sehen konnte, nicht aber das ungleiche Paar, ein Mann mit Geld und starren Ansichten und ein Mädchen ohne Geld mit lockeren Ansichten, wie in dem Film Pretty Woman; und weil dieser Witz für sein Gefühl nicht besonders gut war und die Geschichte alles andere als originell, mußte die Kleine in der Rolle umso besser sein. Ob sie noch Text lernen müsse, fragte er nach hinten. Oder wollen wir lieber Musik hören?

    Lieber Musik, sagte sein junger Fahrgast. Das von der Fahrt nach Prag, okay?

    Das von der Fahrt nach Prag war ein Schlager, der ihm schon unter die Haut gegangen war, als sie noch keinerlei Flecken hatte, und zu den Perlen seiner Early Sixtys-Datei zählte, nämlich Schöner fremder Mann, gesungen von Conny Francis; erst vor wenigen Monaten hatte er nachts auf der Autobahn den Versuch gestartet, die Kleine mit der Musik seiner Jugend bekannt zu machen, ein Volltreffer. Und dabei fuhr er sie jetzt schon seit gut zwei Jahren, seit ihrem Übernachterfolg in dem Historiendreiteiler Wüstenkind, als Mädchen, das den Häschern des Herodes entkommen war, allein durch Galiläa irrte und auf den jungen Jesus traf – eine Idee, die ihn noch immer den Kopf schütteln ließ, nur kam es auf seinen Kopf nicht an. Seitdem hatte sie in vier weiteren Fernsehfilmen die Hauptrolle gespielt, war in jeder Talkshow aufgetreten und machte jetzt sogar Werbung für Hundefutter und Handys; wer sie nicht kannte und mochte, war selber schuld.

    Oder wär’s nicht besser, wenn du noch etwas schlafen würdest, schlug er ihr vor, aber da kam der alte Schlager schon aus sämtlichen Lautsprechern in dem schönen Wagen – Achtzylinder mit Kompressor –, und die Kleine legte, wie immer bei Musik, den Kopf an die Scheibe und sah noch, bevor sie die Augen schloß, einen schneekrustigen Acker vorbeisausen; denn ihr Chauffeur hatte, geleitet durch die sanfte Stimme aus der Touchscreen-Navigation, eine empfohlene Abkürzung zwischen der Autobahn und den Wäldern rund um den einsamen Drehort genommen.

    *

    Der Mann mit der Motorradlederjacke fuhr jetzt auf einem Feldweg, der auf eine Landstraße zulief. Er hatte die Mütze mit den Löchern noch im Gesicht wegen der Kälte, aber nun zog er sie ab, um mehr zu sehen, und stopfte sie zu dem Geld und der Waffe, einer Beretta Brigadier, Kaliber vierzig, von der er nur das Nötigste verstand – wie man ihr Magazin wechselte, den Verschluß zurückzog und abdrückte. Die Pistole kam von einem polnischen Zahnarzt, der ihm beim preiswerten Ziehen zweier Backenzähne von einer ebenfalls preiswerten Sammlung erzählt hatte, und noch unter dem Eindruck der Erlösung von seinem Schmerz hatte er das Prunkstück der Sammlung gekauft – eine Waffe konnte nie schaden, wenn das Leben den Bach runterging, es gab kein besseres Instrument, um die Erlösung selbst in die Hand zu nehmen. In dem Magazin für zehn Patronen waren jetzt noch acht, nach seiner Rechnung. Eine war, nach dem Schuß, automatisch in die Kammer gerückt – soviel verstand er inzwischen davon –, während die andere im Kopf einer Bankkundin steckte: Weiter konnten die Dinge kaum noch heruntergehen, zumal ihn kürzlich seine Frau verlassen hatte, Katastrophe Nummer zwei. Katastrophe Nummer eins lag dagegen schon etwas zurück (frühere Katastrophen nicht mitgezählt, sie waren gewissermaßen verjährt), nämlich sein Rauswurf bei einem Limousinenservice, nachdem Privatgespräche von Fahrgästen im Hurra-Blatt aufgetaucht waren. Er hatte sich vor dem Verkauf der Informationen die falschen Gedanken gemacht, daß solche Leute ja selbst ihr Privatleben an allerlei Blätter verkauften, aber sich falsche Gedanken zu machen, war nichts Neues für ihn; es kam davon, wenn man sich überhaupt zu viele Gedanken machte. Und so hatte er ein paar Stunden zuvor, beim Verlassen der Hauptstadt, die Beretta in der Jacke, auch nur einen einzigen Gedanken gehabt oder eher schon Wunsch: den Wunsch, durch die Motorradfahrt über Land einen klaren Kopf zu bekommen, klar für die Frage, ob sich das Leben noch lohne. Nur hatte er die Kälte nicht bedacht; sie setzte ihm immer mehr zu, und schließlich fuhr er die nächstbeste Ortschaft an, um sich in einer Kneipe zu wärmen, doch es gab keine Kneipe, es gab nur kleine graue Häuser, wo schon der Fernseher lief, und ganz am Ende der Ortschaft die Bank. Und dort hatte er sich gewärmt, bis seine Hände aus der Wollmütze eine Maske machten, womit sich weniger die Idee eines Bankraubs (oder besseren Lebens in einer anderen Umgebung als der gewohnten) verband, sondern mehr die Idee, wie er auf schnellstem Weg an Geld käme und damit auch auf schnellstem Weg wieder an die Frau, die ihm seit Jahren mit einer Kreuzfahrt in den Ohren lag. Und nun gab es diese Tote, obwohl er nicht einmal auf den Geldautomaten richtig gezielt hatte, Katastrophe Nummer drei.

    Eisig blies ihm der Wind ins Gesicht, als er zwischen den Äckern auf eine Landstraße zufuhr und die alte Maschine erst kurz davor abbremste, um dann den Lenker herumzureißen, als könne er damit auch sein Leben noch einmal herumreißen. Das Motorrad aber brach aus und überschlug sich wie ein verletzter Vogel, es schlitterte ohne ihn weiter und krachte gegen einen kahlen Obstbaum: ein böses Krachen und Splittern und im nächsten Moment eine ebenso böse Stille. Und inmitten dieser Stille lag der Mann, bei dem alles danebenging, und sah einen einzelnen Stern über sich, seinen Pechstern, wenn es den gab.

    Das eine Schienbein schmerzte, aber da war auch etwas Heißes nahe am Mund und etwas Warmes am Hals, Blut, das aus einer Wunde lief. Er stemmte sich ein Stück auf und griff in die Lederjacke – das Geld war noch da, ein paar Bündel lagen auf der Straße, dazwischen die Waffe. Offenbar hatte er sich ebenfalls überschlagen, war aber alles andere als tot, so, wie er das Geld zusammenklaubte. Dagegen war das Motorrad in sich verbogen wie eine Büroklammer, mit der man gespielt hat. Leise fluchend begann er das Geld zu zählen. Das dickste Bündel waren Zwanziger, unsortiert, dann kamen Fünfziger und Hunderter, mit Banderole, und von den Violetten, auf denen Fünfhundert stand, gab es nur eine Handvoll. Keine Sechstausend hatte er da, kaum genug für eine Nachsaison-Kreuzfahrt, Mittelmeer, Innenkabine – ein Dreck war seine Beute, ein schlechter Witz. Er schlug sich an die Stirn, und schon war der Witz noch schlechter, weil ihm das Blut auf die Hunderter lief, und jetzt schrie er seine Flüche über die Äcker und gegen den Obstbaum, an dem das Motorrad hing, und griff sich dabei an die Wunde. Sie war neben dem Kinn, in den Bartstoppeln, die ganze Fingerkuppe paßte hinein: gut, daß ihn niemand sehen konnte, auch nicht er selbst, obwohl er sich gern noch einmal gesehen hätte, unversehrt, aber von beiden Rückspiegeln lagen die Splitter herum, alle zu klein, um sich darin zu erkennen.

    Er nahm die Waffe, die er zwei gezogenen Backenzähnen verdankte, und holte Luft, als wollte er nicht sterben sondern tauchen. Dann riß er den Mund auf und schob den Lauf bis an die frische Lücke, doch die Mündung schlug gegen die verbliebenen Zähne, so zitterte seine Hand, mehr aus Angst vor dem Schmerz als dem Tod, obwohl ja Anfang und Ende des Schmerzes ein und dasselbe wären – nur half einem dieser Gedanke nichts, was allein zählte, war das Krümmen des Fingers, und er krümmte ihn auch schon leicht, als die Scheinwerfer eines zweifellos teuren Autos auftauchten und sein schon abgehaktes Leben einfach weiterging.

    *

    Seit ihrem zehnten Geburtstag hatte die Kleine den Hund, einen am Strand von La Palma aufgelesenen Streuner. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tod durch die Giftspritze in einem spanischen Hundeasyl bewahrt, und in seinen Papieren stand der Name Lorca, was angeblich auf den Eigensinn eines Hundefängers zurückging. Denn die Kinder am Strand, hieß es in dem Asyl, hätten das nur umherflitzende Wesen, dem man seine Männlichkeit noch nicht ansah, Loca gerufen, Närrin oder Verrückte, und er habe daraus einfach Lorca gemacht, vielleicht im Gedenken an den großen ermordeten Dichter, auch wenn man einem Hundefänger soviel Feingefühl nicht zutrauen mag. Die Kleine hatte jedenfalls aus Respekt vor Lorcas rauher Kindheit den Namen beibehalten, und auch wenn sie sich eher etwas Stattlicheres gewünscht hätte, war er in ihren Augen schon bald der beste Hund der Welt, mit allen guten Eigenschaften des Streuners. So konnte er ohne Todesangst um sein Leben rennen, wenn größere Hunde hinter ihm her waren, nur davon erfüllt, sie abzuhängen, und in der neuen Umgebung hatte er gleich von allein nach Hause gefunden; doch das beste war seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Rummel um ihre Person.

    Lorca kannte weder Tod noch Teufel, während die Kleine nur zu gut wußte, was von Leuten zu halten war, die einen umschwirrten wie Motten das Licht, bloß weil man im Fernsehen auftrat, so wie sie auch wußte, zu welcher Gemeinheit der Tod imstande sein konnte. Im letzten Jahr hatte er sich zuerst ihre Katze geholt, mit Hilfe eines Lieferwagens, und wenig später ihren Großvater, mit Hilfe eines Schlaganfalls; der Tod war einer, der auch vor Wohnungen mit Alarmanlagen nicht Halt machte und selbst an einem Sommertag, wenn alle Vögel pfiffen, zuschlug. Die Katze war auf dem Weg zu den Vögeln gewesen, und der Fahrer des Lieferwagens hatte nicht einmal angehalten nach ihrem Schrei. Aber auch die Vögel in

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